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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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Manchmal las Herr Beumer ein Kapitel aus den Drei Musketieren vor. Herr Korteweg, der Nachbar im rechten Nebenhaus, in ›Niegedacht‹, war Steuermann auf großer Fahrt gewesen und durch den Krieg zum Nichtstun gezwungen. Nach dem Tod seiner Frau war seine Tochter Karin, die Krankenschwester war, wieder zu ihm gezogen. Auch zu diesem Nachbarn ging Anton hin und wieder, und zwar durch eine Öffnung in der Hecke hinter dem Haus; Karin war immer freundlich, aber ihr Vater schenkte ihm keine Beachtung. Viel Umgang hatten die Leute aus der Uferstraße nicht miteinander, am meisten jedoch schloß sich das Ehepaar Aarts ab, das seit Anfang des Krieges in ›Ruhehort‹ wohnte. Der Mann war offenbar bei einer Versicherungsgesellschaft angestellt, aber nicht einmal das wußte man genau.
    Die vier Häuser waren einmal als Teil eines neuen Stadtviertels geplant gewesen, aber aus dem Viertel war nichts geworden. Ringsherum lag das Schwemmland, Brachland, das mit Unkraut und Sträuchern bewachsen war und mit Bäumen, die nicht mehr jung waren. Dort, auf den landjes, trieb Anton sich oft herum; auch andere Kinder, die weiter weg wohnten, kamen zum Spielen hierher. Manchmal, in der letzten Dämmerung, wenn seine Mutter vergessen hatte, ihn hereinzurufen, stieg von den Feldern eine köstliche Stille auf, die ihn mit Erwartungen erfüllte – worauf, das wußte er selber nicht. Auf etwas, das mit später zu tun hatte, wenn er groß wäre, auf Dinge, die dann geschehen würden. Die reglose Erde und die Blätter. Zwei Spatzen, die plötzlich tschilpten und raschelten. Das Leben würde sein wie solche Abende, an denen man ihn vergessen hatte. Geheimnisvoll und unendlich.
    Die Klinker auf der Straße vor dem Haus waren im Fischgrätmuster gelegt. Ohne Bürgersteig ging die Straße in eine Böschung über, die sanft zum Leinpfad hin abfiel, so daß man dort bequem auf dem Rücken im Gras liegen konnte. Auf der anderen Seite des breiten Kanals – der nur durch seine leichten Biegungen verriet, daß er einmal ein Fluß gewesen war – standen ein paar Landarbeiterhäuschen und kleine Bauernhöfe, und dahinter erstreckten sich die Weiden bis zum Horizont. Noch weiter weg lag Amsterdam. Vor dem Krieg, hatte der Vater erzählt, konnte man abends den Widerschein der Stadt in den Wolken sehen. Ein paarmal war Anton dort gewesen, im Zoo und im Rijksmuseum und bei seinem Onkel, bei dem er einmal übernachtet hatte.
    Rechts, an einer Biegung des Kanals, stand eine Windmühle, die sich nie drehte. Wenn er auf der Böschung lag und in die Ferne starrte, mußte er manchmal seine Beine anziehen. Auf dem ausgetretenen Leinpfad näherte sich ein Mann, der geradewegs aus einem anderen Jahrhundert kam. Vornübergebeugt stemmte er sich gegen eine meterlange Stange, die am Vordersteven eines Lastkahns befestigt war, den er auf diese Weise mit langsamen Schritten durch das Wasser schob. Am Ruder stand meistens in einer Schürze eine Frau mit einem Haarknoten, und auf dem Deck spielte ein Kind. Manchmal wurde die Stange auch auf andere Weise benutzt. Dann blieb der Mann an Bord und ging auf einer Seite des Lastkahns vom Heck zum Bug, wobei er die Stange hinter sich her durch das Wasser zog; sowie er am Bug angekommen war, stieß er sie in den Grund, packte sie fest, lief zurück zum Heck und schob den Kahn auf diese Weise unter seinen Füßen vorwärts. Das fand Anton immer am schönsten: ein Mann, der nach hinten lief, um etwas vorwärts zu schieben, und sich selbst dabei nicht von der Stelle bewegte. Irgend etwas ging nicht mit rechten Dingen zu, doch darüber sprach er mit niemandem, es war sein Geheimnis. Erst später, als er seinen eigenen Kindern davon erzählte, wurde ihm bewußt, in welchen Zeiten er gelebt hatte. Nur in Filmen über Afrika und Asien waren solche Dinge noch zu sehen.
    Mehrmals am Tag kamen Tjalken vorbei, schwer beladene Schiffe mit dunkelbraunen Segeln. Still erschienen sie in der Biegung, und feierlich getrieben vom unsichtbaren Wind verschwanden sie wieder. Mit den Motorschiffen war das anders. Stampfend teilte der Bug das Wasser zu einem V, das sich weitete, bis es beide Ufer erreichte. Dort schwappte das Wasser plötzlich auf und nieder, obwohl das Schiff schon ein ganzes Stück weitergefahren war. Dann schwappten die Wellen zurück und formten ein umgekehrtes V, ein Lambda, das sich immer mehr schloß, nun aber mit dem ursprünglichen V zusammenstieß, verformt das andere Ufer erreichte und wieder zurückschlug, bis der Kanal
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