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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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vom Fenster weg.«
    Am zweiten Tag des Schuljahres, als ihn eigentlich noch niemand kannte, war Fake in der hellblauen Uniform des Jungsturms in der Schule erschienen, auf dem Kopf die dazugehörige Mütze mit dem orangefarbenen Deckel. Das war im September, kurz nach dem ›Tollen Dienstag‹, als alle glaubten, die Befreier kämen, und die meisten NSBKollaborateure zur deutschen Grenze geflohen waren oder noch weiter weg. Fake saß ganz allein in der Klasse auf seinem Platz und holte seine Bücher heraus. Herr Bos, der Mathematiklehrer, stand in der Tür und stemmte einen Arm gegen den Türrahmen, um die Schüler am Betreten der Klasse zu hindern; diejenigen, die schon im Klassenzimmer gewesen waren, hatte er wieder herausgerufen. Zu Fake sagte er, daß Schülern in Uniform kein Unterricht erteilt werde, so weit sei es noch nicht, und so weit würde es auch nie kommen, er solle nach Hause gehen und sich etwas anderes anziehen. Fake sagte nichts, schaute sich auch nicht um, sondern blieb reglos sitzen. Kurz darauf zwängte sich der Rektor durch das Gedränge und redete flüsternd auf den Lehrer ein, aber der gab nicht nach. Anton stand vorn an der Tür und schaute unter dem Arm des Lehrers hindurch auf Fakes Rücken. Plötzlich drehte Fake in dem leeren Klassenzimmer langsam den Kopf und sah ihm in die Augen. Im selben Augenblick hatte Anton soviel Mitleid mit Fake wie mit niemandem je zuvor. Natürlich konnte Fake nicht nach Hause, bei diesem Vater! Und ehe Anton wußte, was er tat, schlüpfte er unter dem Arm von Herrn Bos hindurch und setzte sich auf seinen Platz. Damit war der Widerstand gebrochen. Nach Schulschluß hatte ihn der Rektor auf dem Flur kurz am Arm gepackt und ihm zugeflüstert, daß er Herrn Bos wahrscheinlich das Leben gerettet habe. Anton wußte nicht so genau, was er von diesem Kompliment halten sollte, und später wurde nie wieder darüber gesprochen, auch zu Hause hatte er nichts davon erzählt.
    Der Niedergeschossene in der Gosse. Das Rad stand still. Darüber der unglaubliche Sternenhimmel. Antons Augen hatten sich mittlerweile an das Dunkel gewöhnt, und er konnte nun sicher zehnmal besser sehen als vorher. Orion, der sein Schwert hob, die Milchstraße, ein hell strahlender Planet, vermutlich Jupiter – seit Jahrhunderten war der Himmel über Holland nicht so klar gewesen. Am Horizont zwei langsam wandernde, sich kreuzende und wieder trennende Lichtkegel von Suchscheinwerfern, ohne daß ein Flugzeug zu hören gewesen wäre. Er merkte, daß er immer noch den Würfel in der Hand hatte und steckte ihn in die Hosentasche.
    Im selben Augenblick, als er vom Fenster weggehen wollte, sah er plötzlich Herrn Korteweg und hinter ihm Karin aus dem Haus kommen. Korteweg griff Ploeg unter die Arme, Karin packte ihn an den Stiefeln, und so begannen sie, ihn wegzuzerren, Karin ging rückwärts.
    »Seht euch doch das mal an«, sagte Anton.
    Seine Mutter und Peter konnten gerade noch sehen, wie die Leiche vor ihr Haus gelegt wurde. Karin und Herr Korteweg rannten zurück, Karin warf die Mütze, die Ploeg vom Kopf gefallen war, neben den Toten, ihr Vater nahm das Fahrrad und legte es daneben. Im nächsten Augenblick waren sie in ›Niegedacht‹ verschwunden. Im Erker der Steenwijks brachte niemand ein Wort heraus. Die Uferstraße lag verlassen da, alles war wieder wie vorher, und zugleich war nichts mehr wie vorher. Der Tote lag mit über dem Kopf verschränkten Armen da, die lange Jacke war bis zur Taille hochgerutscht, als ob er aus großer Höhe heruntergefallen wäre. Die rechte Hand umklammerte eine Pistole. Anton erkannte das große Gesicht jetzt deutlich, die angeklebten, nach hinten gebürsteten Haare waren kaum zerzaust.
    »So eine Sauerei!« schrie Peter plötzlich mit sich überschlagender Stimme.
    »He, he, he«, kam Steenwijks Stimme aus dem Dunkel des Eßzimmers. Er saß noch immer am Tisch.
    »Sie haben ihn vor unser Haus gelegt, die Schufte!« rief Peter. »Um Gottes willen! Er muß sofort da weg, bevor die Deutschen hier sind!«
    »Du hältst dich da raus«, sagte Frau Steenwijk. »Wir haben nichts damit zu tun.«
    »Nein, er liegt nur leider jetzt hier vor unserer Tür! Was meint ihr, warum sie das getan haben! Natürlich weil die Deutschen sich rächen werden. Genau wie neulich, am Leidsekanal.«
    »Wir haben nichts verbrochen, Peter.«
    »Als ob sie darauf Rücksicht nähmen! Da kennt ihr die Deutschen aber schlecht!« Er ging aus dem Zimmer. »Komm, Anton, schnell, dann schaffen wir's
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