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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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noch.«
    »Seid ihr verrückt geworden!« rief Frau Steenwijk. Sie verschluckte sich, räusperte sich und spuckte die Gewürznelke aus. »Was hast du denn vor?«
    »Zurücklegen – oder zu Frau Beumer…«
    »Zu Frau Beumer? Wie kommst du denn darauf!«
    »Zu Frau Beumer nicht, aber zu uns schon? Wir haben genausowenig damit zu tun wie Frau Beumer! Wenn bloß die Spaarne nicht zugefroren wäre – wir müssen uns was einfallen lassen.«
    »Kommt nicht in Frage!«
    Auch Frau Steenwijk war aus dem Zimmer gelaufen. In dem fahlen Licht, das durch das Oberlicht in den Hausflur fiel, sah Anton, daß seine Mutter sich in die Tür gestellt hatte und Peter versuchte, sie zur Seite zu drängen. Er hörte, wie sie den Schlüssel umdrehte und dabei rief:
    »Willem, sag doch auch was!«
    »Ja… ja…«, hörte Anton die Stimme seines Vaters, der immer noch im Eßzimmer saß. »Ich…«
    In der Ferne waren wieder Schüsse zu hören.
    »Wenn es ihn ein paar Sekunden später erwischt hätte, läge er jetzt bei Frau Beumer!« rief Peter.
    »Ja…«, sagte Herr Steenwijk leise, seltsam gebrochen. »Aber das ist nicht der Fall.«
    »Nicht der Fall! Es war auch nicht der Fall, daß er hier lag, aber jetzt ist es der Fall! Ich werde ihn trotzdem zurücklegen. Ich tu es dann eben alleine.«
    Er drehte sich um und wollte zur Küchentür laufen, stolperte jedoch mit einem Schmerzensschrei über die aufgestapelten Holzscheite und Zweige der letzten Bäume, die hinter dem Grundstück zu schlagen gewesen waren.
    »Peter, um Himmels willen!« rief Frau Steenwijk. »Du spielst mit dem Leben!«
    »Das ist genau das, was ihr tut, verdammt noch mal.«
    Bevor sich Peter aufrappeln konnte, schloß Anton die Küchentür ab und warf den Schlüssel in den Flur, wo er mit einem klirrenden Geräusch unsichtbar wurde, rannte dann zur Haustür und tat dasselbe mit dem Haustürschlüssel.
    »Verflucht und zugenäht!« rief Peter fast heulend. »Ihr seid verblödet, verblödet, alle!«
    Er ging ins Eßzimmer, zog die Vorhänge auf und stemmte seinen gesunden Fuß gegen die Tür zum Garten. Knarrend und Streifen aus Zeitungspapier in die Luft wirbelnd flog sie auf. Anton sah den Schatten seines Vaters plötzlich als Scherenschnitt im Schnee. Er saß immer noch am Tisch.
    Als Peter im Garten verschwand, rannte Anton wieder in den Erker. Er schaute hinaus und sah seinen Bruder hinkend um die Hausecke verschwinden, über den Zaun steigen und Ploeg bei den Stiefeln packen. Im selben Moment schien er einen Augenblick zu zögern: vielleicht, weil er plötzlich das viele Blut sah, vielleicht, weil er sich nicht entscheiden konnte, in welche Richtung er sich wenden sollte. Aber bevor er etwas unternehmen konnte, waren vom Ende der Straße her Rufe zu hören:
    »Halt! Stehenbleiben! Hände hoch!«
    In schneller Fahrt näherten sich drei Männer, warfen ihre Fahrräder auf die Straße und stürmten los. Peter ließ Ploegs Beine fallen, riß ihm die Pistole aus der Hand, rannte ohne zu humpeln zu Kortewegs Zaun und verschwand hinter ihrem Haus. Die Männer riefen sich etwas zu. Einer von ihnen, in Wintermantel und Mütze, feuerte einen Schuß ab und lief hinter Peter her.
    Anton spürte die Wärme seiner Mutter, die neben ihm stand.
    »Was ist das? Schießen sie auf Peter? Wo ist er?«
    »Hintenherum.«
    Mit großen Augen verfolgte Anton das Geschehen. Der zweite Mann, er hatte eine Feldjägeruniform an, rannte zurück, sprang auf sein Fahrrad und fuhr schnell davon, während sich der dritte, der wie der erste in Zivil war, auf der anderen Straßenseite die Böschung hinuntergleiten ließ, mit beiden Händen eine Pistole umklammerte und auf dem Leinpfad in die Hocke ging.
    Anton duckte sich unter die Fensterbank und drehte sich um. Die Mutter war verschwunden. Über dem Tisch die Umrisse des Vaters, nun noch gebeugter als vorher, als betete er. Anton hörte die Mutter hinter dem Haus auf der Gartenterrasse Peters Namen in die Nacht flüstern – es war, als ob die Kälte, die von draußen hereinkam, von ihrem Rücken ausströmte. Sonst kein Geräusch. Anton sah und hörte alles, war aber irgendwie abwesend, ein Teil von ihm war bereits irgendwo anders, oder nirgends mehr. Er war unterernährt und nun auch steif vor Kälte, aber das allein war es nicht. Dieser Augenblick – der Vater am Tisch als schwarzer Schatten im Schnee, die Mutter draußen auf der Terrasse im Licht der Sterne – blieb auf ewig stehen, machte sich frei von allem, was vorangegangen war und was
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