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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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in seiner ganzen Breite von einem komplizierten Liniengeflecht überzogen war, das sich minutenlang immer wieder veränderte, bis es sich schließlich beruhigte und verschwand. Anton versuchte immer wieder, den genauen Ablauf der Bewegungen herauszufinden, doch jedesmal wurde das Wellenmuster so kompliziert, daß er es nicht mehr verfolgen konnte.

Erste Episode
1945

1
    Es war Abend, ungefähr halb acht. Für einige Stunden hatten im Kanonenofen leise ein paar Holzscheite gebrannt, doch jetzt war er kalt. Anton saß mit seinen Eltern und Peter am Eßzimmertisch. Auf einem Teller stand ein blumentopfgroßer, verzinkter Zylinder, aus dem ein dünnes Rohr ragte, das sich wie ein Ypsilon teilte und an den Enden in zwei Öffnungen auslief, aus denen zwei gegeneinandergerichtete spitze, grellweiße Flämmchen bliesen. Der Apparat warf ein seelenloses Licht in den Raum, in dem als tiefe Schatten die zum Trocknen aufgehängte und immer wieder ausgebesserte Wäsche, Stapel ungebügelter Hemden, Küchengeräte, eine Kochkiste zum Warmhalten des Essens sowie zwei Arten von Büchern aus dem Arbeitszimmer des Vaters zu sehen waren: Die Reihe auf dem Buffet war zum Lesen da, der Stapel von Romanen auf dem Fußboden diente zum Anfeuern der Brennhexe, auf der gekocht wurde, falls es etwas zu kochen gab. Zeitungen erschienen schon seit Monaten nicht mehr. Mit Ausnahme des Schlafens spielte sich das häusliche Leben nur noch im ehemaligen Eßzimmer ab. Die Schiebetüren waren geschlossen. Dahinter, auf der Straßenseite, lag das Wohnzimmer, das die Steenwijks den ganzen Winter über nicht betreten hatten. Um die Kälte möglichst draußen zu halten, blieben die Vorhänge auch am Tage zugezogen, so daß das Haus vom Kai aus gesehen unbewohnt aussah.
    Es war Januar 1945. Fast ganz Europa war befreit, feierte, aß, trank, liebte und begann den Krieg allmählich zu vergessen, aber Haarlem glich von Tag zu Tag mehr einem grauen Schlackeklumpen, der aus dem Ofen gezogen worden war zu einer Zeit, als es noch Kohlen gegeben hatte.
    Antons Mutter hatte einen dunkelblauen Pullover vor sich auf dem Tisch, die Hälfte davon war bereits verschwunden. In der linken Hand hielt sie ein größerwerdendes Wollknäuel, um das sie mit der rechten schnell den Faden aus dem Pullover wickelte. Anton schaute auf den hin und her springenden Faden, der den Pullover – mit flachen ausgebreiteten Ärmeln lag er da, als wollte er etwas aufhalten – aus der Welt verschwinden und zur Kugel werden ließ. Als ihm seine Mutter kurz zulächelte, schaute er wieder in sein Buch. Ihre blonden Haare hatte sie über den Ohren in zwei Schnecken gedreht, die aussahen wie Ammonshörner. Hin und wieder hielt sie kurz inne und nahm einen Schluck von ihrem kalt gewordenen Ersatztee, den sie mit geschmolzenem Schnee aus dem Garten gekocht hatte, weil die Wasserleitung zwar noch nicht abgesperrt, dafür aber eingefroren war. Sie hatte ein Loch im Zahn, das zur Zeit nicht behandelt werden konnte, und deshalb (wie früher ihre Großmutter) gegen die Schmerzen eine Gewürznelke hineingesteckt, die sie in der Küche gefunden hatte. So gerade wie sie dasaß, so krumm saß ihr gegenüber ihr Mann und las ein Buch. Sein dunkles, grau werdendes Haar lag wie ein Hufeisen um den kahlen Schädel. Von Zeit zu Zeit blies er sich in die Hände; obwohl er kein Arbeiter, sondern Justizbeamter beim Landgericht war, waren sie groß und klobig.
    Anton trug die Kleidungsstücke auf, aus denen sein Bruder herausgewachsen war, Peter hatte einen zu großen schwarzen Anzug seines Vaters an. Er war siebzehn Jahre alt, und da er plötzlich zu wachsen begonnen hatte, als es immer weniger zu essen gab, sah sein Körper aus, als sei er aus Dachlatten zusammengebaut worden. Peter machte Schularbeiten. Seit einigen Monaten ging er nicht mehr aus dem Haus, da er in dem Alter war, in dem man bei Razzien aufgegriffen und zur Zwangsarbeit nach Deutschland geschickt werden konnte. Da er zweimal eine Klasse hatte wiederholen müssen, war er erst in der vierten Klasse des Gymnasiums, und damit er nicht noch weiter zurückblieb, bekam er nun von seinem Vater Unterricht, mit Hausaufgaben und allem, was dazugehörte. Die Brüder ähnelten sich ebensowenig wie ihre Eltern. Es gibt Ehepaare, die sich ausgesprochen ähnlich sehen, und das liegt vielleicht daran, daß die Frau der Mutter des Mannes und der Mann dem Vater der Frau ähnelt (wahrscheinlich ist es noch komplizierter), in der Familie Steenwijk jedoch gab es
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