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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
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nannten die Faschisten ihre Söhne meist Anton oder Adolf, und – den stolzen Geburtsanzeigen mit der SSRune oder dem NSB-Zeichen, dem Wolfseisen, zufolge – manchmal sogar Anton Adolf. Wenn Anton später jemanden kennenlernte, der Anton oder Adolf hieß oder Toni oder Dolf genannt wurde, dann versuchte er herauszubekommen, ob dieser Anton oder Adolf während des Krieges geboren war. Wenn dem so war, hatten die Eltern mit absoluter Sicherheit auf der falschen Seite gestanden, und das sicher nicht nur mit halbem Herzen. Zehn oder fünfzehn Jahre nach dem Krieg konnte man seinen Sohn wieder Anton nennen – was auf Musserts Bedeutungslosigkeit schließen läßt –, mit Adolf dagegen ist das bis heute ein Problem. Erst wenn es wieder Adolfs gibt, haben wir den Zweiten Weltkrieg wirklich hinter uns; aber dafür ist der dritte nötig, was heißt, daß es für immer vorbei ist mit den Adolfs. Auch das Lied, das Anton gewissermaßen im Gegenangriff vorbrachte, ist heute ohne Erklärung nicht mehr verständlich: Es wurde mit näselnder Stimme von einem Rundfunkkomiker gesungen, der, als man noch ein Radio haben durfte, unter dem Namen Peter Pech auftrat. – Aber noch viel mehr ist heute unverständlich, vor allem für Anton selbst.
    »Setz dich mal zu mir«, sagte Herr Steenwijk zu Peter und nahm sich das Schularbeitsheft vor. Mit getragener Stimme begann er, die Übersetzung vorzulesen:
    »Wie die durch Regen und Schneeschmelze angeschwollenen Flüsse vom Gebirge herabströmend in einem Talbecken ihre gewaltigen Wassermassen, überquellenden Brunnen entsprungen, in ihren leeren Betten vereinen – und weit weg in den Bergen hört der Hirte ihr ohrenbetäubendes Brausen –: So klang das Geschrei und der verbissene Kampf der ins Handgemenge verwickelten Soldaten. – Ist das nicht großartig?« Herr Steenwijk lehnte sich zurück und nahm kurz seine Brille ab.
    »Ja, famos«, sagte Peter. »Vor allem, wenn man anderthalb Stunden darüber gesessen hat, über diesem Mistsatz.«
    »Der ist auch seinen Tag wert. Herrlich, wie er die Natur heraufbeschwört, aber nur indirekt, als Gleichnis. Ist dir das aufgefallen? Was man behält, ist nicht das Handgemenge der Soldaten, sondern das Bild der Natur – und das ist immer noch da. Die Schlacht ist vorbei, aber die Flüsse sind noch da, man kann sie noch immer hören und ist dann selber der Hirte. Als wollte der Dichter sagen, daß das ganze Dasein eine Metapher für eine andere Wirklichkeit ist und daß es darauf ankommt, diese andere Wirklichkeit zu erkennen.«
    »Das ist dann wohl der Krieg«, sagte Peter.
    Herr Steenwijk tat, als hätte er das nicht gehört.
    »Ausgezeichnet, mein Junge. Bis auf einen kleinen Fehler. Es sind nicht ›Flüsse‹, die zusammenkommen, sondern ›zwei Flüsse‹.«
    »Wo steht denn das?«
    »Hier: Symballeton, das ist ein Dualis, das Zueinanderkommen zweier Dinge, zwei. Erst dann stimmt auch das Bild mit den beiden Armeen. Das ist eine Form, die nur bei Homer vorkommt. Denk doch mal an ›Symbol‹, das kommt von symballo, ›zueinanderbringen‹, ›treffen‹. Weißt du, was ein symbolon war?«
    »Nein«, sagte Peter in einem Ton, dem anzumerken war, daß er es auch nicht wissen wollte.
    »Was ist das denn, Papa?« fragte Anton.
    »Das war ein Stein, der in zwei Stücke zerschlagen wurde. Stell dir vor, ich übernachte in einer anderen Stadt und frage meinen Gastgeber, ob er auch dich aufnehmen würde – woher soll er wissen, ob du tatsächlich mein Sohn bist? Dann machen wir ein symbolon, er behält die eine Hälfte, und ich gebe dir zu Hause die andere. Wenn du dann dort ankommst, passen sie genau zueinander.«
    »Das ist gut«, sagte Anton. »Werd ich auch mal machen.«
    Stöhnend wandte Peter sich ab. »Wozu in Gottes Namen muß ich das alles wissen?«
    »Nicht in Gottes Namen«, sagte Herr Steenwijk und sah ihn über die Brille hinweg an, »im Namen der Humanitas. Du wirst sehen, wieviel Freude dir das im späteren Leben bereitet.«
    Peter schlug seine Bücher zu, stapelte sie übereinander und sagte mit seltsam klingender Stimme:
    »Wer den Menschen zuschaut, lacht laut.«
    »Was soll denn das nun wieder heißen, Peter?« fragte seine Mutter. Mit der Zunge schob sie die Gewürznelke an die richtige Stelle.
    »Nichts.«
    »Das fürchte ich auch«, sagte Herr Steenwijk. »Sunt pueri pueri pueri puerilia tractant.«
    Der Pullover war verschwunden, und Frau Steenwijk legte das Wollknäuel in ihren Nähkorb.
    »Kommt, laßt uns noch ein
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