Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat
Autoren: Harry Mulisch
Vom Netzwerk:
zurücklag in der Zeit vor dem Krieg. Trotz des Lärms um ihn herum kam eine große Ruhe über ihn. Er hielt sich nicht länger abseits, sondern gehörte dazu, gehörte zu all diesen Menschen, deren Anwesenheit alles verändert zu haben schien, nicht nur ihn selbst, sondern auch die Häuser, die Fenster, aus denen hier und dort wie in einer kapitulierenden Stadt weiße Laken hingen, die vorüberziehenden grauen Wolken und den Wind, der den schwarzen Raketenballon hin und her trieb und manchmal etwas einknickte, worauf dieser sich aber sofort wieder streckte:
    DANKE FÜR DIE ZUKUNFT
    An der Stirnseite des Platzes stieß der Demonstrationszug auf einen breiten Strom von Leuten, die gerade erst eintrafen. Höflich lachend und sich entschuldigend ließen die einen die anderen durch. Anton war überrascht; die Menschen waren offensichtlich nicht so ungehobelt, beziehungsweise noch nicht so ungehobelt geworden, wie er gedacht hatte. Jedenfalls hier nicht. Oder hatte er es nun ausschließlich mit Leuten zu tun, die noch friedlich waren? Er mußte sich bei van Lennep bedanken, daß er ihn hierhergeschleppt hatte. Er stellte sich auf die Zehenspitzen und schaute sich um. Plötzlich sah er Sandra und rief laut ihren Namen. Sie winkte und sie drängelten sich aufeinander zu.
    »Ich trau meinen Augen nicht!« rief sie schon von weitem.
    »Große Klasse, Papa, ganz groß!« Sie gab ihm einen Kuß auf die Wange und hakte sich bei ihm ein. »Was ist denn mit dir passiert?«
    »Ich glaube, ich bin der einzige auf diesem Platz, der zum Mitmachen gezwungen worden ist, aber allmählich werde ich zum Freiwilligen. Guten Tag, Bastiaan.« Er gab ihrem Freund die Hand – einem gutaussehenden Jungen in Jeans und Turnschuhen, mit einem Palästinensertuch um den Hals und einem kleinen goldenen Ring im linken Ohr –, den er nicht besonders mochte, der nun aber Vater seines Enkelkindes werden sollte. Sandra hatte möbliert gewohnt, war aber vor einigen Wochen zu Bastiaan in ein verbarrikadiertes besetztes Haus gezogen. Nachdem Anton erzählt hatte, wie alles vor sich gegangen war, sagte Bastiaan:
    »Glauben Sie bloß nicht, Sie seien der einzige, der hier auf Befehl mitmacht. Es wimmelt hier von Polizisten. Sie brauchen sich nur umzudrehen.«
    Eine Gruppe Soldaten war erschienen und wurde mit lautem Beifall begrüßt. Anton sah Leute, die beim Anblick der Uniformen die Tränen nicht zurückhalten konnten; wie kostbare Blumen wurden die triumphierenden Soldaten von den um sie herumtanzenden Jungen und Mädchen beschützt. Anton verstand die Welt nicht mehr.
    »Werden die Jungen gezwungen, hier mitzumachen?« Er begegnete dem Blick einer älteren Frau, die ihn ansah, als kenne sie ihn. Eine Patientin, natürlich. Er nickte ihr zu.
    »Die natürlich nicht, du Zombie! Aber der da.« Bastiaan deutete auf einen Mann in einer Windjacke, der die Soldaten filmte. »Polizei.«
    »Meinst du wirklich?«
    »Wir sollten ihm eigentlich die Kamera aus den Händen schlagen.«
    »Ja«, sagte Anton, »mach das mal, darauf warten sie doch nur, daß es hier mal richtig losgeht.«
    »Aus Versehen, natürlich«, sagte Bastiaan mit einem falschen Lachen, das Anton maßlos ärgerte.
    »Aus Versehen, ja. Benimm dich jetzt lieber wie der Begleiter einer schwangeren Frau. Ich möchte sehr gern Großvater werden, wenn es möglich ist.«
    »O. k.«, sagte Sandra mit singender Betonung, »es ist also wieder soweit. Tschüß, Papa, ich ruf dich an.«
    »Wiedersehen, Liebling, geh nur. Und sorg dafür, daß du aus dem Haus raus bist, bevor es von der Polizei gestürmt wird. Wiedersehen, Bastiaan.«
    Es war kein richtiger Streit, aber die soundsovielte Wiederholung einer gegenseitigen Irritation, die schon fast zur Pflichtübung geworden war.
    Van Lennep war nirgends zu sehen, ebensowenig Peter. Anton ließ sich langsam mit dem Menschenstrom mittreiben. Alte Männer und Frauen machten von kleinen Balkonen herunter mit beiden Händen das V-Zeichen, an das sie sich noch aus dem Krieg erinnerten, Musikkapellen marschierten mit, und auch auf dem Bürgersteig wurde Musik gemacht, ohne daß jemand mit einem Hut herumging. Die ganze Gesellschaft schien aus den Fugen geraten zu sein. In schwarzen Strumpfhosen und viel zu großen, glänzenden Jacketts vom Flohmarkt tanzten ausgelassene Punker mit gelb und lila gefärbten Haarsträhnen auf den Dächern der Straßenbahnhaltestellen und wurden mit Wohlwollen betrachtet von Leuten, die bisher Angst vor ihnen gehabt hatten. Nur in der Luft
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher