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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv
Autoren: Leo Frank
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es ja nicht eilig. Er konnte das deponierte Geld zwei oder drei Tage liegenlassen, es sich abholen, wenn die Luft rein war. Die Iwans konnten nicht hinter jedem Pisser einen Agenten nachschicken, der das Versteck kontrollierte. Kein Geheimdienst der Welt war dazu imstande. Einen Schraubenzieher und Leim würde er sich nachmittags kaufen. Abends würde er sich dann seinen Briefkasten basteln. Er bestellte sich doch einen doppelten Kognak. Irgendwie war auch Willis Selbstmord für ihn von Vorteil. Tote können nicht reden, und Erich besaß nun das ganze Material, das ganze Archiv mitsamt den Codeverzeichnissen. Das Leben war schön. Warum auch nicht? Warum sollten auch nicht für Zwinker-Erich bessere Zeiten kommen. Blieb noch zu überlegen, ob er nicht gleich hunderttausend verlangen sollte für die nächste Lieferung. Das war zu überlegen.
    Die Nachricht vom Tode Wilhelm Weiss erfuhr Maria Sommer durch ein Schreiben der Polizeidirektion Wien, denn Zeitungen las Maria Sommer seit Wochen nicht mehr, mit Ausnahme des monatlichen Kirchenblattes. Es war ein amtliches Begleitschreiben zu einem offenen persönlichen Brief des Verstorbenen, aus dem auch dessen »letztwillige Verfügungen« zu ersehen waren. Der Briefträger und ihr Sohn waren fast gleichzeitig gekommen. Sie bereitete zunächst das Mittagessen, sprach das Tischgebet, wusch das Geschirr ab, überwachte die Hausaufgaben des Kleinen, und erst, nachdem er draußen beim Spielen war, begann sie, den Brief zu lesen. Es war ein sehr persönlicher Brief, der mit der Überschrift »Liebe Frau Maria« begann. »Ich habe mich entschlossen«, so las sie, »meinem Freund und dem Vater Ihres Sohnes nachzufolgen. Dorthin, wo wir uns eingedenk unseres Glaubens alle einmal wiedersehen werden.
    Trotz Ihrer Erzählungen, liebe Frau Maria, war es mir immer unbegreiflich, wie zwei so verschiedene Menschen wie mein Freund und Sie zueinander finden konnten, wenn auch nur vorübergehend. Ich bin auch sicher, daß Sie Herbert nie richtig verstanden haben, denn er war in seinem Wesen ein gütiger Mensch. Ohne jemals mit ihm darüber gesprochen zu haben – die Möglichkeit dazu war mir nicht mehr gegeben –, weiß ich, daß in den letzten Jahren alle seine Gefühle und Sorgen auf das Wohl und die weitere Entwicklung seines und Ihres Kindes ausgerichtet waren. Ich fürchte, Sie haben es ihm dabei in letzter Zeit nicht leichtgemacht.
    So ist es sicher im Sinne Herberts, wenn ich Ihren Sohn zum Alleinerben bestimme. Es sind keine großen Reichtümer, doch darf ich Sie trotzdem bitten, alles für seine Erziehung zu verwenden. Und erziehen Sie den Kleinen bitte so, daß er sich niemals für seinen Vater schämt. Lassen Sie ihn auch manchmal raufen und Fußball spielen, denn das Leben besteht nicht aus Beten allein. Leben Sie wohl, Ihr W. Weiss.«
    Im amtlichen Begleitschreiben wurde Frau Maria Sommer »höflich ersucht«, innerhalb von acht Tagen mit einem von ihr zu bestimmenden Nachlaßverwalter (öffentlicher Notar oder Rechtsanwalt) im Zimmer einhundertfünfundzwanzig des Polizeikommissariates Wien 21, dritter Stock, vorzusprechen. Zwischen neun und zwölf Uhr unter Vorlage dieses amtlichen Schreibens.
    Maria Sommer wischte sich mit der Schürze über die Augen und ging zum Fenster. Ein paar Buben auf der Straße rannten einem Ball nach, ihr Herbert sah zu. Sie hatte ihm eingeschärft, seine neuen Schuhe nicht zu ruinieren. Morgen würde sie ihm Fußballschuhe kaufen.

 

    XXVI
    Die Nachricht von seinem eigenen Tode erfuhr Wilhelm Weiss, alias Bill White, im Transit-Raum des Flughafens Kairo. Er las von seinem tragischen Selbstmord und der aufsehenerregenden Selbstverbrennung in einer deutschen Tageszeitung, als er gerade beim Friseur saß und sich rasieren ließ. Die Zeitung war zwei Tage alt. Bills schaumbedeckte Wangen wölbten sich zu einem fröhlichen Grinsen, und das Rasiermesser des öligen Figaros zuckte zurück: Bei Allah, er wollte den Effendi nicht verletzen.
    Das ist nicht so wie in Wien oder New York oder anderen unzivilisierten Gegenden. Wenn du dich rasieren läßt in Nikosia oder Kairo oder Beirut, ist das ganz anders. In Mitteleuropa oder Brooklyn bist du in zehn Minuten fertig, man schmeißt dich in deinen Mantel – wenn du Glück hast –, einer sagt fünf Mark oder ein Dollar fünfzig – wenn du Glück hast –, und du bist wieder auf der Straße und wahrscheinlich regnet es. – Immerhin, die Bartstoppeln sind weg.
    In Middle East ist das ganz anders.
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