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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom
Autoren: Mary Higgins Clark
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wenigen Minuten schrieb sie konzentriert an dem nächsten Kapitel ihres Buches über den Bürgerkrieg in England.
    Die Ursachen des Konflikts hatte sie bereits behandelt, die ver-heerenden Steuerforderungen, die Auflösung des Parlaments, das Beharren auf der königlichen Gerichtsbarkeit, die Hinrichtung Karls I., die Jahre Cromwells, die Restauration der Monarchie. Nun würde sie sich mit dem Schicksal der Königsmörder befassen, der Männer, die den Hinrichtungsbefehl für Karl I.
    geplant, unterzeichnet oder vollstreckt hatten und dafür die rasche Vergeltung durch seinen Sohn, Karl II., zu spüren bekamen.
    Ihr erstes Ziel am nächsten Morgen war das Staatsarchiv in Chancery Lane. Harold Wilcox, der stellvertretende Leiter, zog bereitwillig Stapel von vergilbten Dokumenten heraus, in denen sich der Staub von Jahrhunderten gesammelt zu haben schien.
    Wilcox hegte größte Bewunderung für Karl II. »Als knapp Sechzehnjähriger mußte er zum erstenmal aus dem Land flüchten, um dem Schicksal, das seinem Vater drohte, zu entgehen.
    Ein schlaues Kerlchen, der Prinz. Entwischte durch die Linien der Rundköpfe in Truro und segelte nach Jersey und weiter nach Frankreich. Er kam zurück, um die Royalisten zu führen, floh abermals nach Frankreich, hielt sich dort und in Holland auf, bis England zur Vernunft kam und um seine Rückkehr bat.«

    »Er lebte bei Breda. Ich bin dort gewesen«, warf Judith ein.
    »Ein interessanter Ort, finden Sie nicht? Und wenn Sie sich umschauen, entdecken Sie bei vielen gewisse charakteristische Merkmale der Stuarts. Karl II. war ein Frauenfreund. In Breda unterzeichnete er die berühmte Erklärung, die den Henkern seines Vaters Begnadigung verhieß.«
    »Er hat sein Versprechen nicht gehalten. Tatsächlich war diese Erklärung nichts weiter als eine wohlformulierte Lüge.«
    »Er schrieb, er werde Gnade walten lassen, wo dies erwünscht und verdient sei. Doch weder er noch seine Berater glaubten, daß jeder diese Gnade verdiente. Neunundzwanzig Männer wurden wegen Königsmord vor Gericht gestellt. Andere zeigten sich selbst an und wurden ins Gefängnis gesteckt. Die für schuldig Befundenen wurden gehängt, ausgeweidet und gevierteilt.«
    Judith nickte. »Ja. Aber es gab nie eine eindeutige Erklärung dafür, daß der König auch bei der Enthauptung einer Frau zugegen war, Lady Margaret Carew, verheiratet mit einem der Kö-
    nigsmörder. Was für ein Verbrechen hatte sie begangen?«
    Harold Wilcox runzelte die Stirn. »Um historische Ereignisse ranken sich immer Gerüchte. Damit befasse ich mich nicht.«

    Auf das naßkalte winterliche Wetter der letzten paar Tage war strahlender Sonnenschein mit einer fast linden Brise gefolgt.
    Vom Staatsarchiv ging Judith zu Fuß bis Cecil Court und stöberte den Rest des Vormittags in den alten Buchhandlungen. In der Gegend wimmelte es von Touristen, für sie ein Beweis, daß die Reisesaison sich jetzt über volle zwölf Monate erstreckte. Und dann machte sie sich klar, daß sie in den Augen der Briten ebenfalls eine Touristin war.
    Beide Arme mit Büchern beladen, beschloß sie, sich auf die Schnelle einen Lunch in einer der kleinen Teestuben um Convent Garden zu genehmigen. Als sie sich über den belebten Marktplatz einen Weg bahnte, blieb sie stehen, um den Jongleuren und Holzschuhtänzern zuzusehen, die an diesem unverhofft schönen Tag besonders fröhlich gestimmt schienen.
    Und dann geschah es. Das anhaltende, durchdringende Heulen der Sirenen erfüllte die Luft. Die Bomben verdunkelten die Sonne, stürzten auf sie zu; das Gebäude hinter den Jongleuren löste sich in Schutt und Asche auf. Sie erstickte. Der heiße Rauch versengte ihr Gesicht, nahm ihr den Atem. Ihre Arme erschlafften, und die Bücher fielen auf den Boden.
    Verzweifelt tastete sie umher, auf der Suche nach einer hilf-reichen Hand. »Mami«, flüsterte sie, »ich kann dich nicht finden, Mami.« Ein Schluchzen stieg ihr in die Kehle, als die Sirenen verstummten, die Sonne wiederkam, der Rauch sich verzog.
    Sobald die Sehschärfe zurückkehrte, merkte sie, daß sie sich am Ärmel einer zerlumpten Frau festklammerte, die eine Schale mit Plastikblumen trug. »Alles in Ordnung, Kindchen?« erkundigte sich die Frau. »Sie werden doch jetzt nicht schlappmachen?«
    »Nein. Nein. Mir geht’s gut.« Irgendwie schaffte sie es, die Bücher aufzusammeln, eine Teestube anzusteuern. Von der Speisekarte, die ihr die Kellnerin reichte, nahm sie keine Notiz, sondern bestellte nur Tee und Toast.
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