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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom
Autoren: Mary Higgins Clark
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dem Nichts auf, hastete auf die Fahrbahn, ergriff das Kind und barg es in den Armen.
    »Mami, Mami«, hörte Judith es schreien.
    Sie schloß die Augen und vergrub das Gesicht in den Händen, als sie sich selber laut jammern hörte: »Mami, Mami.« Großer Gott. Nicht schon wieder!
    Sie zwang sich, die Augen zu öffnen. Die Frau und das kleine Mädchen waren verschwunden, wie sie erwartet hatte. Nur der alte Mann tappte vorsichtig den Bürgersteig entlang.
    Das Telefon klingelte, als sie eine Diamantnadel an der Jacke ihres Cocktailkostüms aus Ripsseide befestigte. Stephen.
    »Wie ging’s heute mit dem Schreiben, Darling?« fragte er.
    »Sehr gut, denke ich.« Judith spürte, wie sich ihr Puls be-schleunigte. Sechsundvierzig, und beim Klang von Stephens Stimme bekam sie Herzklopfen wie ein Schulmädchen.
    »Judith, das Kabinett ist zu einer Dringlichkeitssitzung einbe-rufen worden, und die wird sich hinziehen. Bist du sehr böse, wenn wir uns erst bei Fiona treffen? Ich schicke dir den Wagen.«
    »Tu das nicht. Mit dem Taxi geht’s schneller. Wenn du zu spät kommst, haben dich Staatsgeschäfte aufgehalten. Mir wür-de man es nur als schlechtes Benehmen ankreiden.«
    Stephen lachte. »Du machst mir das Leben wahrhaftig leicht!«
    Er senkte die Stimme. »Ich bin vernarrt in dich, Judith. Laß uns nur so lange auf der Party bleiben, wie wir unbedingt müssen, und dann irgendwo in Ruhe zu Abend essen.«
    »Ausgezeichnet. Auf Wiedersehen, Stephen. Ich liebe dich.«
    Judith legte den Hörer auf, ein Lächeln umspielte ihre Lippen.
    Vor zwei Monaten hatte sie bei einer Abendgesellschaft Sir Stephen Hallett als Tischnachbarn gehabt. »Einfach das Nonplusul-tra in England«, vertraute ihr Fiona Collins, die Gastgeberin, an.
    »Sieht phantastisch aus. Charmant. Hochintelligent. Innenminister. Er wird der nächste Premierminister, das ist allgemein bekannt. Und der Clou, Judith, mein Schatz, er ist zu haben.«
    »Ich bin Stephen Hallett vor Jahren ein- oder zweimal in Washington begegnet«, erwiderte Judith. »Kenneth und ich hatten ihn sehr gern. Aber ich bin nach England gekommen, um ein Buch zu schreiben, nicht, um mich mit einem wenn auch noch so charmanten Mann einzulassen.«
    »Ach, Unsinn«, fuhr Fiona sie an. »Du bist seit zehn Jahren Witwe, das reicht. Du hast dir als Schriftstellerin einen Namen gemacht. Es ist wirklich angenehm, Schätzchen, einen Mann im Haus zu haben, besonders wenn die Adresse Downing Street 10
    lautet. Meine Nase sagt mir – ihr beide wärt ein ideales Paar. Du bist eine schöne Frau, Judith, aber du signalisierst ständig
    ›Bleibt mir vom Halse, ich bin nicht interessiert‹. Bitte spar dir das heute abend.«

    Sie hatte nicht signalisiert. Und an jenem Abend hatte Stephen sie nach Hause begleitet und war auf einen Drink mit he-raufgekommen. Sie hatten sich bis zum Anbruch der Dämmerung unterhalten. Zum Abschied hatte er sie leicht auf den Mund geküßt. »Ich kann mich nicht erinnern, je im Leben einen so anregenden Abend verbracht zu haben«, hatte er geflüstert.
    Es war nicht ganz so einfach, ein Taxi zu finden, wie sie an-genommen hatte. Judith wartete zehn Minuten in der Kälte, bis endlich eines vorbeikam. Als sie am Bordstein stand, versuchte sie, den Blick auf die Fahrbahn zu vermeiden. Dies war genau die Stelle, wo sie vom Fenster aus die Kleine fallen gesehen hatte. Oder es sich einbildete…
    Fiona bewohnte eine Regency-Villa in Belgravia. Als Unter-hausabgeordnete bereitete es ihr Vergnügen, mit der scharfzüngigen Lady Astor verglichen zu werden. Ihr Ehemann Desmond gehörte als Präsident eines weltweiten Verlagsimperiums zur Machtelite Englands.
    Judith ließ ihren Mantel in der Garderobe und ging dann nach nebenan in die Damentoilette. Nervös tupfte sie sich etwas Glanz auf die Lippen und strich sich die vom Wind zerzausten Haare aus dem Gesicht. Sie hatte noch ihre natürliche dunkel-braune Haarfarbe und deshalb die paar Silbersträhnen bisher nicht tönen lassen. Ein Interviewer hatte ihre Augen einmal als saphirblau bezeichnet und ihren porzellanzarten Teint als Hinweis auf ihre vermeintliche englische Abstammung.
    Es wurde Zeit, in den Empfangsraum zu gehen und sich von Fiona herumreichen zu lassen. Sie verzichtete dabei nie auf einen Kommentar, der sich wie der Werbetext für den Schlußverkauf anhörte: »Meine sehr liebe Freundin Judith Chase. Eine der angesehensten Schriftstellerinnen in Amerika. Pulitzer-Preis.
    American Book Award. Warum sich dieses
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