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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom
Autoren: Mary Higgins Clark
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Blockierungen lösen. Heute ist diese Theorie akzeptiert und wird allgemein angewendet. Wozu muß sich ein Mensch einer jahrlangen Analyse unterziehen, um die Ursachen seines speziellen Problems herauszufinden, wenn sich das gleiche Resultat in ein paar kurzen Sitzungen erzielen läßt?«
    »Aber beim Anastasia-Syndrom verhält es sich doch sicher ganz anders?« wandte Fiona ein.
    »Anders ja, und trotzdem verblüffend ähnlich.« Patel machte eine Handbewegung. »Sehen Sie sich die Leute in diesem Raum an. Typische Vertreter der britischen Elite. Intelligent. Informiert. Bewährte Führungskräfte. Jeder von ihnen könnte sich als Vehikel eignen, die großen säkularen Führer zurückzubringen.
    Überlegen Sie nur, wieviel besser es um die Welt bestellt wäre, wenn uns heute beispielsweise der Rat von Sokrates zur Verfü-
    gung stünde. Sehen Sie, dort steht Sir Stephen Hallett. Meiner Meinung nach wird er einen vorzüglichen Premier abgeben, aber wäre es nicht eine zusätzliche Beruhigung, wenn man wüßte, daß Disraeli oder Gladstone als Ratgeber bereitstehen? Daß sie buchstäblich Teil seines Wesens sind?«
    Stephen! Judith drehte sich rasch um, hielt dann inne, als Fiona losstürzte, um ihn zu begrüßen. Da sie merkte, daß Hutchinson sie beobachtete, blieb sie mit Vorbedacht bei Dr. Patel, als der Kreis um ihn sich auflöste. »Wenn ich Ihre Theorie richtig verstehe, Doktor, wurde diese Anna Anderson, die behauptete, Anastasia zu sein, wegen eines Nervenzusammenbruchs behandelt. Sie glauben nun, daß sie während einer Sitzung – unter Hypnose und Medikamenten – versehentlich in jenen Keller in Rußland zurückversetzt wurde, und zwar genau in dem Augenblick, in dem die Großfürstin Anastasia zusammen mit der übrigen Zarenfamilie ermordet wurde.«
    Patel nickte. »Das ist exakt meine Theorie. Die Seele der Großfürstin ist nach dem Verlassen ihres Körpers nicht ins Jenseits, sondern in den von Anna Anderson eingegangen. Die beiden Persönlichkeiten wurden eins. Anna Anderson wurde in Wahrheit zur lebenden Verkörperung Anastasias – mit ihren Erinnerungen, ihren Gefühlen, ihrer Intelligenz.«
    »Und was geschah mit Anna Andersons Persönlichkeit?«
    fragte Judith.
    »Da gab es anscheinend keinerlei Konflikt. Sie war eine hochintelligente Frau, stellte sich aber bereitwillig der neuen Situation als überlebende Thronerbin Rußlands.«
    »Aber warum Anastasia? Warum nicht ihre Mutter, die Zarin, oder eine ihrer Schwestern?«
    Patel zog die Stirn hoch. »Eine sehr scharfsinnige Frage, Miß Chase. Damit haben Sie genau auf das einzige Problem beim Anastasia-Syndrom hingewiesen. Aus der Geschichte wissen wir, daß Anastasia unter den weiblichen Familienmitgliedern bei weiten die willensstärkste war. Vielleicht haben die anderen ihren Tod ergeben hingenommen und den Weg ins Jenseits angetreten. Sie war nicht bereit zu gehen, kämpfte um den Verbleib in dieser Zeitzone und nahm die zufällige Gegenwart von Anna Anderson wahr, um sich ans Leben festzuklammern.«
    »Damit sagen Sie also, die einzigen Menschen, die Sie theore-tisch zurückbringen könnten, wären diejenigen, die gegen ihren Willen starben, die verzweifelt weiterleben wollten?«
    »Genau. Eben deshalb erwähne ich Sokrates, der gezwungen wurde, den Schierlingsbecher zu leeren, im Gegensatz zu Aristo-teles, der eines natürlichen Todes starb. Aus dem gleichen Grund war es in der Tat leichtfertig dahingeredet, als ich meinte, Sir Stephen könnte ein geeignetes Medium sein, das Essentielle von Disraeli in sich aufzunehmen. Disraeli starb friedlich, aber eines Tages werde ich auch die Kenntnisse besitzen, um die in Frieden Ruhenden zurückzurufen, deren moralische Führungsqualitäten wieder benötigt werden. Und jetzt ist Sir Stephen auf dem Weg zu Ihnen.« Patel lächelte. »Ich darf mir die Bemerkung erlauben, daß ich höchste Bewunderung für Ihre Bücher empfinde. Es macht Freude, einem derart fundierten Wissen zu begegnen.«
    »Vielen Dank.« Sie mußte ihm diese Frage stellen, die sie nun heraussprudelte: »Sie konnten doch Menschen dazu verhelfen, Dr. Patel, sich frühkindliche Erinnerungen wieder ins Gedächtnis zu rufen, nicht wahr?«
    »Ja.« Er betrachtete sie mit gespannter Aufmerksamkeit. »Das ist doch keine müßige Frage.«
    »Nein.«
    Patel griff in die Tasche und reichte ihr seine Karte. »Falls Sie mich zu sprechen wünschen, rufen Sie bitte an.«
    Judith spürte eine Hand auf ihrem Arm und blickte hoch in Stephens Gesicht.
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