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Das Anastasia-Syndrom

Titel: Das Anastasia-Syndrom
Autoren: Mary Higgins Clark
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Als er kam, zitterten ihre Hände noch immer so heftig, daß sie die Tasse kaum halten konnte.
    Beim Bezahlen zog sie die Karte, die ihr Dr. Patel auf Fionas Party gegeben hatte, aus der Brieftasche. In Convent Garden hatte sie eine Telefonzelle entdeckt. Von dort würde sie ihn anrufen.
    Laß mich ihn erreichen, betete sie, während sie die Nummer wählte.
    Die Sprechstundenhilfe wollte sie nicht mit ihm verbinden.
    »Dr. Patel hat gerade die letzte Konsultation beendet. Nachmittags ist keine Sprechstunde. Ich kann Ihnen für nächste Woche einen Termin geben.«
    »Sagen Sie ihm nur meinen Namen und daß es sich um einen Notfall handelt.« Judith schloß die Augen. Das Heulen der Sirenen. Es fing von neuem an.
    Und dann hörte sie Dr. Patels Stimme. »Sie haben ja meine Adresse, Miß Chase. Kommen Sie sofort her.«
    Als sie seine Praxis in der Welbeck Street betrat, hatte sie sich wieder einigermaßen unter Kontrolle. Eine magere Vierzigerin im weißen Kittel, das blonde Haar zu einem straffen Nackenknoten aufgesteckt, ließ sie herein. »Ich bin Rebecca Wadley, Dr. Patels Assistentin«, erklärte sie. »Der Doktor erwartet Sie.«
    Das Wartezimmer war klein, sein Behandlungsraum dagegen recht groß. Mit Kirschholz getäfelt, einer Bücherwand, einem massiven Schreibtisch aus Eichenholz, mehreren bequemen Ses-seln und in der Ecke eine unauffällige Couch mit verstellbarer Rückenlehne, wirkte es wie ein Studierzimmer. Keine Spur von klinischer Atmosphäre.
    In ihrem Unterbewußtsein registrierte Judith sämtliche Ein-zelheiten, als sie auf seine Aufforderung hin ihre Taschen auf einem Marmortisch neben der Tür zum Wartezimmer ablegte.
    Ein automatischer Blick in den darüber hängenden Spiegel zeigte ihr zu ihrer Bestürzung, daß ihr Gesicht leichenblaß war, die Lippen aschgrau, die Pupillen geweitet.
    »Ja, Sie sehen aus wie jemand, der gerade einen Schock erlitten hat«, stellte Dr. Patel fest. »Kommen Sie, setzen Sie sich.
    Erzählen Sie mir genau, was passiert ist.«
    Die gewisse Jovialität, die er bei der Party hervorgekehrt hatte, war verschwunden. Er hörte mit ernster, gesammelter Miene zu. Gelegentlich unterbrach er sie, um mit einer gezielten Frage nachzuhaken. »Sie waren noch keine zwei Jahre alt, als man Sie, in Salisbury herumirrend, fand. Sie hatten entweder noch nicht angefangen zu sprechen oder konnten wegen des Schocks kein Wort herausbringen. Sie trugen keine Erkennungsmarke. Für mich heißt das, Sie müssen mit einem Erwachsenen gefahren sein. In solchen Fällen hatte leider meist die Mutter oder das Kindermädchen die Erkennungsmarken bei sich.«
    »Mein Kleid und der Pullover waren handgemacht, das spricht meiner Meinung nach nicht dafür, daß man mich ausgesetzt hat.«
    »Es wundert mich, daß eine Adoption genehmigt wurde, noch dazu einem amerikanischen Ehepaar«, bemerkte Patel.
    »Meine Adoptivmutter hat mich gefunden; sie war beim britischen Women’s Royal Naval Service und mit einem amerikanischen Marineoffizier verheiratet. Ich war im Waisenhaus und fast vier, als sie die Adoptionsgenehmigung bekamen.«
    »Sind Sie vorher schon einmal in England gewesen?«
    »Wiederholt. Edward Chase, mein Adoptivvater, war nach dem Krieg im diplomatischen Korps. Wir haben in vielen Ländern gelebt, bis ich aufs College kam. Bei unseren Reisen nach England sind wir sogar in dem Waisenhaus gewesen. Merkwür-digerweise hatte ich daran nicht die leiseste Erinnerung. Es schien, als hätte ich von jeher bei ihnen gelebt, und ich habe mir darüber auch nie Gedanken gemacht. Aber jetzt sind sie seit Jahren tot, und ich habe fünf Monate in England verbracht und mich in die britische Geschichte vertieft. Dabei sind offenbar all meine englischen Gene in Aufruhr geraten. Ich fühle mich hier heimisch. Ich gehöre hierher.«
    »Und nun werden die Abwehrmechanismen, die Sie in der Frühkindheit aufgebaut haben, ins Wanken gebracht?« Patel seufzte. »Das kommt vor. Doch meiner Meinung nach steckt mehr hinter diesen Vorfällen, diesen Halluzinationen, als Sie realisieren. Weiß Sir Stephen, daß Sie mich aufgesucht haben?«
    Judith schüttelte den Kopf. »Nein. Er wäre darüber sehr ärger-lich.«
    »Er etikettiert mich vermutlich als ›Scharlatan‹, richtig?«
    Sie antwortete nicht. Ihre Hände zitterten immer noch. Sie verschränkte sie fest im Schoß.

    »Schon gut«, sagte Patel. »Ich sehe hier drei Faktoren. Sie versenken sich in die englische Geschichte – zwingen gewis-sermaßen Ihr Gedächtnis,
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