Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Das Amerikanische Hospital

Titel: Das Amerikanische Hospital
Autoren: Michael Kleeberg
Vom Netzwerk:
letztes Jahr? Sie haben mich fünf Monate lang durchgecheckt. Belastungs-EKG, Kernspin-Tomographie, Blutdruck, Blutzucker, Darmspiegelung, Koronarangiogramm, Borreliosetest - you name it. Nein, was das betrifft, bin ich kerngesund. Auch kein Guillain-Barré-Syndrom. Keine multiple Sklerose. Und dennoch ändert sich an den Symptomen nichts. Ich kann nicht
schlafen, ich habe Albträume, Panikattacken, Schweißausbrüche für ein Nichts. Ich kann mich auf keine Arbeit richtig konzentrieren, ich habe Anfälle, bei denen sich das Herz zusammenkrampft, dass ich denke, ich kriege einen Infarkt. Ich kann, Hélène, ich kann mich nicht freuen. Ich lese die Gedichte Elizabeth Bishops, und ich habe keine Gefühlsregung. Ich bin in Paris, wo ich immer hinwollte, und es ist, als wäre die Farbe aus dem Film gewaschen. Ich weiß, welche Emotion jetzt kommen müsste, aber sie kommt nicht. Ich erinnere mich an Gefühle, aber ich empfinde sie nicht. Wie herausoperiert. Im Februar hat die innere Medizin aufgegeben und mich an die Psychiatrie weitergereicht. Da haben die Tests wieder angefangen. Mittlerweile sind sie so weit, eine Angststörung zu vermuten, eine Agoraphobie vielleicht, und seit ein paar Wochen muss ich Medikamente nehmen, Paroxetin.
    Was ist das?
    Ein Antidepressivum. So was wie Prozac. Technisch gesprochen ein SSRI, ein sogenannter selektiver Serotonin-Wiederaufnahmehemmer. Fragen Sie bitte nicht, wie das funktioniert, ich weiß es auch nicht. Und währenddessen geht die Befragung weiter, um herauszubekommen, ob es tatsächlich eine Angststörung ist, und wenn ja, woher sie rührt.
    Und, haben Sie denn Angst vor etwas?
    Ja, aber ich weiß nicht wovor und warum. Ich habe die beste Ausbildung der Welt bekommen, um alle konkreten und gerechtfertigten Ängste unter Kontrolle zu halten, und jetzt hocke ich bibbernd unterm Tisch, wenn eine Glastür zufällt.
    Er schüttelte angewidert den Kopf.

    Und was ist mit den ungerechtfertigten Ängsten?, fragte Hélène und setzte hinzu: Es ist das Natürlichste von der Welt, Angst zu haben. Vor allem als Soldat.
    Er sah sie an. Ja, das mag sein. Aber es ist auch das Unerträglichste. Ich hoffe, der Arzt wird die Gründe herausfinden. Ironischerweise ist es ein Iraner, Dr. Mehran. Trägt nicht gerade zu meiner Redseligkeit bei.
    Sie können zu den Ärzten hier Vertrauen haben. Es sind die besten, die es gibt, sagte Hélène.
    Warum hat es bei Ihnen nicht geklappt?, fragte der Amerikaner brüsk.
    Hélène zuckte die Achseln. Kein Glück gehabt.
    Aber was war der Grund?
    Es gab keinen Grund.
    Es gibt immer einen Grund.
    Ich kenne ihn jedenfalls nicht.
    Aber was hat der Arzt gesagt?
    Gar nichts. Er weiß es auch nicht. Er muss es auch erst einmal analysieren. Und auf seinen Blick hin: Ich meine, das funktioniert ja nicht wie die Fließbandproduktion von Autos. Es muss eben alles Mögliche zusammenkommen und funktionieren. Und irgendein Detail hat nicht funktioniert. Aber ich bleibe zuversichtlich.
    Der Amerikaner nickte.
    Haben Sie eigentlich eine Familie?, fragte Hélène.
    Nicht mehr.
    Hélène wartete, aber er redete nicht weiter. Da sie das Gefühl hatte, das Reden tue ihm gut, hakte sie nach: Nicht mehr?, halb schon in der Furcht, eine weitere Katastrophe zu hören, für die sie, das spürte sie deutlich, nicht stark genug sein würde.

    Das Übliche. Geschieden.
    Oh, das tut mir leid. Haben Sie Kinder?
    Hatte welche, sagte er, und als er sah, wie ihre Augen sich weiteten, fügte er hinzu: Natürlich sind sie noch da, aber da sie fort sind, ist es ganz so, als würden sie nicht existieren.
    Ganz so wohl doch nicht.
    Nein, vielleicht schlimmer, meinte er gedankenlos, und dann, nach kurzem Überlegen: Obwohl, dramatisieren wir nichts. Ich habe sie auch vorher kaum gesehen. Es geht ihnen gut, sie haben eine neue Familie, und soweit ich weiß, auch ein neues Halbgeschwister. Wir haben’83 geheiratet, gleich nach dem College, dann kam Antony,’84 bin ich nach Deutschland versetzt worden, da ist sie nicht mit, wegen der Versorgung des Babys, da ist sie bei ihren Eltern geblieben, das war wahrscheinlich ein Fehler.’85 kam Catherine.’86 schickt ihr Anwalt mir die Scheidungsklage. Wie Sie sehen, ich erinnere mich kaum noch, sie waren noch klein. Meine Frau hat wieder geheiratet, in die Gegend von Chicago. Nehme an, sie sind glücklich.
    Aber sehen Sie Ihre Kinder denn nicht regelmäßig?
    Nein, sagte der Amerikaner abschließend, sodass Hélène sich nicht traute nachzufragen.
    Sie
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher