Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht
Autoren: Nika Lubitsch
Vom Netzwerk:
Licht ein. Ich hatte alles angeschaut, was es hier zu sehen gab. Aber warum zum Teufel sollte jemand eine Kiste mit Energiedrinks und Eiweißshakes abschließen? In einem eigenen Haus ohne Kinder brauchte man nicht mal Hormone abzuschließen, falls mein Mann eine Geschlechtsumwandlung plante. Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, die Kiste abzuräumen. Ich hievte sie einfach beiseite. Voilà: die Falltür zum Keller. Erneut brach mir trotz der arktischen Temperaturen der Schweiß aus. Das Öffnen der Tür kostete einen ziemlichen Kraftaufwand. Ich entfaltete die Leiter, die mit einem lauten Krachen nach unten fiel. Vorsichtig stieg ich die Stufen hinab. Die Garage wurde eindeutig als Keller genutzt. Hier hingen Motorsägen, Kreissägen, Schraubenzieher, Kneifzangen und anderes Werkzeug ordentlich aufgereiht über einer Werkbank. Julia, sagte ich mir, das ist eine Werkstatt. So was braucht man als Hausbesitzer. In der Ecke stand eine alte, weiße Kühltruhe. Auch sie trug ein Schloss. Gleiches Spiel, neues Glück. Ich ging dorthin und gab den Zip Code von Burlington, Vermont, ein. Und wieder öffnete sich das Schloss mit einem lauten Knacken. Ich öffnete die Tür. Elf eiskalte Augenpaare starrten mich an.
    Ich hatte inzwischen viel Zeit, über meinen Ausflug nach Pine Island nachzudenken. Warum ich so gehandelt habe und nicht anders. Wie das eine zum anderen führte. Warum ich so hartnäckig gesucht hatte. Ich muss es gewusst haben, oder? Wird es je wieder einen Tag geben, eine Nacht, eine Minute, in der mir diese eiskalten Augen nicht folgen werden?
    Die Welt drehte sich um mich, das Blut sauste in meinen Ohren, ich drehte mich um und besudelte den Boden mit den unverdauten Resten des Crab Cakes aus Capt’n Con’s Fish House. Nachdem ich keuchend auch noch die letzte bittere Galle von mir gegeben hatte, richtete ich mich auf, wischte mir mit meinem Ärmel über den Mund und traf eine Entscheidung.
    Ich schloss die Kiste, gab den Zip Code ein, kletterte mit zitternden Knien die Falltreppe hinauf, holte sie wieder hoch, räumte die potemkinsche Kiste darüber und kletterte in das Badezimmer.
    Es war wie immer. Ich ging ganz ruhig an das Waschbecken, spülte meinen Mund, spritzte mir Wasser ins Gesicht. Ich schaute hoch in den Spiegel, aus dem mich zwei Augen mit riesigen Pupillen anstarrten. Sie sahen aus, als ob ich Drogen genommen hätte. Ich hatte irgendwo mal gelesen, dass Menschen, die unter Schock stehen, sozusagen von ihrem eigenen Körper sediert werden. Bei mir schien das nicht zum ersten Mal zu funktionieren. Julia schaute mir schon wieder zu. Wie ich langsam das Badezimmer verließ, das Haus zuschloss, die morsche Treppe hinunterstieg und Ellys grünen Wagen startete. Ich fuhr wie in Trance die Pine Island Road herunter und nahm die Veterans Bridge nach Fort Myers. Im Auto hatte ich die Klimaanlage abgestellt, weil meine Zähne klapperten. Das war so ziemlich die einzige Gemütsregung, zu der ich fähig war. Mir war kalt. Eiskalt.

Der Abschied
    Am nächsten Morgen fuhr ich wie immer ins Krankenhaus. Wieder bahnte ich mir meinen Weg durch Kameras und Mikrofone und meinte, sie sollten sich besser Kaffee und Donuts holen, anstatt mich zu belästigen. Was ich wirklich meinte, war, Leute, stärkt euch, es wird bald Neues zu berichten geben.
    Ich betrat das wunderbar kühle Krankenhaus und nickte Phil und Maria am Empfang zu. Man kannte mich inzwischen, sie waren alle sehr nett zu mir und hilfsbereit. Es war diese amerikanische Art von Freundlichkeit, die uns Deutschen oft falsch vorkommt, aber ich hatte inzwischen gemerkt, dass ihre Hilfsbereitschaft echt war. Wenn man einmal einen Behinderten im Supermarkt beobachtet, dann ist diese Art von Hilfsbereitschaft fast beschämend. Nicht für den Behinderten, sondern für den Beobachter. „Darf ich Ihnen etwas aus dem Regal oben reichen?“ oder „Warten Sie, ich schaue mal schnell, ob ich das für Sie finden kann“ sind hier einfach selbstverständlich. Da könnten wir in Deutschland noch eine Menge von lernen.
    Ich kannte sie inzwischen alle per Vornamen, alle Krankenschwestern und Ärzte auf der Station. Sie waren in den letzten Wochen so was wie meine Familie geworden. Und sie machten einen wirklich guten Job. Nie in meinem Leben könnte ich Krankenschwester sein, ich bewundere alle Menschen, die zu so einer Selbstaufopferung fähig sind. Aletha, eine handfeste, kaffeebraune Schönheit mit einem Hinterteil in der Größe eines Fiat 500, das sie mit
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher