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Das 2. Gesicht

Das 2. Gesicht

Titel: Das 2. Gesicht
Autoren: Nika Lubitsch
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atemberaubender Anmut bewegte, brachte mir einen Kaffee, als ich mich neben meinen Mann an das Bett gesetzt hatte. Sie streichelte meinen Rücken, eine sehr tröstende Geste in dieser absolut trostlosen Umgebung. Wir waren umgeben von Schläuchen und blinkenden, leise piependen Apparaten, die Georges Körperfunktionen überwachten.
    Wir warteten immer noch auf die Spenderleber, deshalb hatte man George noch nicht zurück aus dem künstlichen Koma geholt. Ansonsten sei alles normal, informierte mich Aletha, womit sie meinte, dass der Zustand von George weder besser noch schlechter geworden war. Sie schloss leise hinter sich die Tür und ich war endlich allein mit meinem Mann.
    Wie jeden Tag redete ich mit ihm. Wer weiß, vielleicht versteht er mich ja. In den letzten Wochen hatte ich ihm die Zeitungen vorgelesen, hatte berichtet, wie die Menschen sich um ihn sorgen, hatte erzählt, dass Sandra wieder in Berlin war. Ich habe ihm alles erzählt, was ich in meinen traurigen Tagen so angestellt hatte, auch wenn ich wieder einen Termin mit Silverstein hatte. Ich hielt ihn auf dem Laufenden, was den Stand meines Prozesses anging. Und auch heute erzählte ich ihm, was ich gestern getrieben habe.
    „Ich war in Bookelia, weißt du“, sagte ich und hielt dabei seine Hand. Irrte ich mich oder spürte ich da ein leises Zucken?
    „In deinem wunderschönen Haus in Bookelia. Weißt du, was ich dort gefunden habe, mein Schatz?“, fragte ich. Kein Zucken. Nichts.
    „Ich habe deinen neuen Roman gefunden. Wunderbar geschrieben, das wird ganz bestimmt ein Megaseller. Ich war so fasziniert, dass ich den Anfang und das Ende auswendig gelernt habe. Ich dachte, es würde dich freuen, wenn ich dir den Anfang und das Ende vorlese, Liebster, was meinst du?“ Kein Zucken. Nein.
    Ich nahm einen Schluck von dem scheußlich schmeckenden Krankenhauskaffee und begann zu zitieren.

Prolog „Romeo und Julia“ von George Osterman
    Sie stand vor ihm wie ein Engel der Rache. Ihre graugrünen Katzenaugen spien Funken und ihre glänzenden Lippen verhießen nichts Gutes. Ohne dass sie ein Wort gesagt hatte, wusste er, dass er gerade seinem Schicksal begegnet war: Julia.
    Am Abend dann nahm er ihre Hand und führte sie über den hell erleuchteten Boulevard. Sie fragte nicht: wohin. Sie fragte gar nichts. Julia wusste. Deshalb lief sie weg, hinaus in die Nacht, wo er sie nicht mehr schützen konnte.
    „Julia!“, rief er ihr hinterher, es war, als ob er um sein Leben bettelte. Aber Julia erhörte ihn nicht.
    Eine halbe Meile weiter verlor eine Prostituierte ihr Leben.
    „Toller Anfang, George“, lobte ich und drehte einige Seiten, die ich mir ausgedruckt hatte, in meinen Händen. „Wobei man über den letzten Satz streiten könnte. Wie wäre es mit ‚
Im Tiergarten wurde eine Hure erdrosselt‘.
Du weißt doch, niemals allgemein, immer speziell sein. Ja, ja, ich weiß, du hast das noch nicht redigiert. Und der Lektor hat es auch noch nicht gelesen. Trotzdem, Glückwunsch, echt gruselig. Ja, mein Schatz, ich habe die ganze Nacht gelesen. Nein, halt, nicht die ganze, die halbe. Ich habe es bis zum Epilog gelesen. Du hast es für mich geschrieben, nicht wahr, George? Komm, hör ihn dir noch mal an, diesen Epilog. George, ist das eine Handlungsanweisung?“
    Ich setzte mich in meinem Stuhl aufrecht hin. Der Arzt, Dr. Desmond Smith kam in das Krankenzimmer.
    „Hallo, Julia, wie geht es Ihnen heute?“, fragte er und trat an das Krankenbett.
    „Danke, Desmond, mir geht es gut, aber wie geht es meinem Schatz?“, fragte ich zurück. Desmond nahm die Tafel, auf der alle Messwerte akribisch eingetragen wurden, schaute auf die Instrumente und sagte den gleichen Satz wie Aletha: „Alles normal. Den Umständen entsprechend gut.“
    Desmond war wirklich eine Perle. Er gab keine Interviews, er informierte mich über jede klitzekleine Änderung im Befinden meines Mannes, so einen Arzt konnte man sich nur wünschen.
    „Gibt es denn schon eine Prognose, wann Sie ihn aufwecken können?“, fragte ich ihn.
    Desmond schüttelte bedauernd den Kopf. „Wir warten dringend auf eine Spenderleber, aber ich denke, es wird nicht mehr lange dauern. Seine Werte verbessern sich ständig. Behalten Sie die Nerven, Julia, ich bin sehr zuversichtlich, dass Sie zwei noch viele gute Jahre miteinander haben werden.“
    Ich lächelte Desmond dankbar an. Dabei löste sich eine Träne aus meinem rechten Augenwinkel, ohne dass ich etwas dazu tun konnte.
    „Nicht weinen, Julia, Sie
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