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Dark Love

Dark Love

Titel: Dark Love
Autoren: Lia Habel
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gen Süden vordrangen. Sie gaben allen ein gemeinsames Ziel – Expansion.
    Eine Weile lang ging das gut. Während des nachfolgenden Besiedlungskrieges gegen die lateinamerikanischen Stämme, die ihrerseits von Bolivien und Brasilien gen Norden vorstießen, gelang es meinen Vorfahren, ein beträchtliches Gebiet einzunehmen; es erstreckte sich von Mexiko bis zu den nördlichen Höhenzügen Südamerikas. Nach einigen Jahrzehnten hatte die Landnahme ihren Höhepunkt erreicht, eine weitere Ausdehnung war nicht mehr möglich. Als der Vertrag von 2055 unterzeichnet wurde, waren beide Armeen am Ende ihrer Kräfte, und Überleben war wichtiger als Vorherrschaft.
    Uns wurden die Gebiete zugesprochen, die wir heute als Territorien kennen, und die Volksstämme des Südens teilten den Rest unter sich auf. Meine Ahnen wurden Zeugen der darauf folgenden internen Machtkämpfe im Süden, sie beobachteten die Ausbrüche vieler kleinerer Kriege und zogen eine Lehre daraus: Sie mussten zusammenarbeiten.
    Und so fanden die Territorien endlich Frieden. Meine Vorfahren ließen sich nieder und begannen mit dem Wiederaufbau – was ihnen ausgezeichnet gelang. Im Laufe der Jahre gewannen sie längst verloren geglaubte Technologien zurück wie die Erzeugung von Biotreibstoff oder die Solarenergie. Sie bahnten neue Handelsrouten und entsandten Forschungsreisende auf der Suche nach Ressourcen und Altertümern in den Norden. Trotzdem lebten sie nach wie vor in einer primitiven Gesellschaftsform und in einem noch nicht vollständig geeinten Land. Es bestand aus einer Ansammlung von Dörfern und Kleinstädten, die von Bauern und Handwerkern bewohnt und vom Militär regiert und beschützt wurden. Die erste Generation hatte Wurzeln geschlagen, die Anführer der nächsten sprachen schließlich von der Notwendigkeit, eine ordentliche Regierung und eine rechtmäßige Nation zu gründen.
    Und während sie noch diskutierten, entwickelte sich das Leben in den Dörfern weiter.
    Es geschah nicht über Nacht, es war mehr als eine spontane Laune – mein Volk, das im Allgemeinen konservativ war, hatte seine Vergangenheit nie vergessen. Nach und nach schienen die Menschen sogar immer mehr davon wiederzuentdecken und sich immer deutlicher daran zu erinnern. Während die Völker des Südens strahlend utopische Zukunftsvisionen entwarfen oder in Chaos und Elend stürzten, wurden meine Vorfahren immer altmodischer. Die Frauen trugen nur noch lange Kleider. Etikette wurde zum nationalen Zeitvertreib. Man verabscheute Gewalt und schlechtes Benehmen. Es wurde erwartet, dass man höher gestellten Personen Respekt entgegenbrachte und wusste, welchen Platz man in der Gesellschaft einnahm.
    Innerhalb weniger Generationen hatte sich mein Volk offiziell auf die viktorianische Gesellschaftsform festgelegt. Sie stand für Zivilisiertheit, Ordnung und Wohlstand, und als es schließlich an der Zeit war, unsere Verfassung zu ratifizieren und unserer Nation einen Namen zu geben, stimmte eine überwältigende Mehrheit für »Neuviktoria«.
    Warum? Darüber streiten sich die Wissenschaftler seit Jahren. Die Theorie, die mir selbst am ehesten einleuchtet, lautet, dass … nun ja, dass das viktorianische Zeitalter bereits so weit zurück lag, dass für keinen unserer Vorfahren eine echte emotionale Bindung zu dieser Epoche bestand. Wie sollte das nach diesen von Seuchen, Stürmen, Kriegen und Hunger geprägten Jahrhunderten auch möglich sein? Und doch hatten die meisten Menschen eine Vorstellung davon. Sie konnten sich ein Bild jener Zeit machen oder sie hatten schon einmal von einer historischen Person oder von einem Familienmitglied aus der viktorianischen Zeit gehört. Oder aber sie kannten eine ihrer Geschichten wie Dracula oder Moulin Rouge . Viele der Gebäude, Bücher und Filme, die irgendwie die Zeiten überdauert hatten, wiesen viktorianische Elemente auf. Außerdem muss man bedenken, dass, wenn auch die Weiler zu Dörfern und die Dörfer zu Städten wurden, der Großteil der Bevölkerung noch immer auf dem Land lebte. Die ausgefallene Sprache der Viktorianer erschien ihnen als Sinnbild von Geist und Schönheit, ihre Kleidung wie königliche Gewänder, ihre Manieren und ihre Sittlichkeit schienen perfekt, beinahe engelsgleich.
    Die Menschen wussten also gerade genug, um sich ein goldenes Zeitalter auszumalen. Sie übersahen seine hässlichen Seiten und sie wollten … sie brauchten es. Ein neues goldenes Zeitalter. Eine Geschichte ohne Schattenseiten. Sogar der erste
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