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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman
Autoren: Edith Wharton
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senkrechten Furchen zwischen den Augen! Sie wollte sie nicht zulassen, nein, keine Sekunde lang. Im heuchlerischen Ton einer Mutter, die ihr verletztes Kind beschwichtigt, befahl sie sich: «Hör auf, dir Sorgen zu machen, Pauline. Du weißt genau, so etwas wie Sorgen gibt es nicht; das sind nur Verdauungsstörungen oder Mangel an Bewegung, und alles ist in bester Ordnun g …»
    Sie schaute erneut in den Spiegel und bildete sich ein, die Falten seien wirklich weniger sichtbar, die senkrechten Furchen weniger tief. Jetzt erblickte sie wieder eine sich gerade haltende, sportliche Frau mit eigenem Haar, eigenen Zähnen und nur einem Hauch Rouge (weil «man das eben so macht»), das einen noch immer frischen Teint zum Strahlen brachte, musterte die feinen, symmetrischen Gesichtszüge, die schwarzen, dünn aufgemalten Brauen über den ausdrucksvollen, unverwandt blickenden grauen Augen, das üppige, ergrauende Haar, das sich unter dem Zauberstab des Friseurs noch immer willig kräuselte, und die sicher auf dem Boden stehenden Füße mit dem gewölbten Rist, der sich zu schlanken Fesseln verjüngte.
    Wie unsinnig, sich über diese dumme Nachricht aufzuregen, das sah ihr gar nicht ähnlich! Sie würde bei Dexter vorbeischauen und die Mahatma-Geschichte in fünf Minuten regeln. Wenn es wirklich zu einem Skandal kommen sollte, wollte sie nicht, dass Dexter in ihn verwickelt war – nicht, wenn es gegen den Mahatma ging. Niemals würde sie vergessen, dass der Mahatma der Erste war, der ihr erklärt hatte, sie habe eine Begabung fürs Übersinnliche.
    Das Mädchen öffnete einen Spalt breit die Innentür und sagte vorwurfsvoll: «Madam, der Friseur; und Miss Bruss hat mich gebeten, Sie zu erinner n …»
    «Ja, ja, ja!», antwortete Mrs Manford hastig, und während sie sich in ihren Kimono warf und sich vor den Toilettentisch setzte, wiederholte sie im Flüsterton: «So, ich verbiete dir, dich gehetzt zu fühlen. Du weißt, so etwas wie Hetzerei gibt es nicht.»
    Doch erneut wanderte ihr Blick ängstlich zu der kleinen Uhr zwischen den Parfümfläschchen, und sie fragte sich, ob sie nicht Zeit sparen könnte, indem sie Maisie Bruss diktierte, während sie sich ondulieren und maniküren ließ. Sie beneidete Frauen, die kein Verantwortungsgefühl hatten, wie Jims kleine Lita. Sie selbst kannte nur eine einzige Welt, und die ruhte auf ihren Schultern.
    3
    Als Nona um Viertel nach eins das Haus ihres Halbbruders betrat, erhielt sie die Auskunft, Mrs Wyant sei noch nicht aufgetaucht.
    «Und Mr Wyant auch nicht, nehme ich an? Aus seinem Büro, meine ich», fügte sie hinzu, als der junge Butler verwundert dreinblickte.
    Pauline Manford war bei der Hochzeit ihres Sohnes sehr großzügig gewesen. Sie war erleichtert, dass er einen Hausstand gründete und begriffen zu haben schien, dass zu einer Ehe auch ein Beruf gehörte und das, was man eine geregelte Lebensweise nannte. Jim Unregelmäßigkeiten waren nicht etwa von der Art, an die man bei diesem Wort gemeinhin denkt. Vielmehr hatte er sich nicht entschließen können, was er mit seinem Leben anfangen sollte (genau wie sein armer Vater!), hatte immer vergessen, wie viel Uhr es war oder welche Verabredungen seine Mutter für ihn getroffen hatte; einmal hatte er sich in Cedarledge sogar ein Chemielabor gewünscht und dies dann, als es eingerichtet war, erst als Zwinger für seine Foxterrierzucht und später als ruhiges Plätzchen zum Geigenüben benutzt.
    Nona wusste, wie sehr ihre Mutter unter dieser Unschlüssigkeit gelitten hatte und wie beruhigt Mrs Manford gewesen war, als der junge Mann im Rausch der Verliebtheit gelobt hatte, wenn Lita ihn nähme, würde er in ein Büro gehen und sich dort schinden wie alle anderen Ehemänner.
    Wenn Lita ihn nähme! Lita Cliffe, eine Waise ohne Mitgift, der niemand zur Seite stand als eine verrückte und etwas anrüchige Tante, die «unmögliche» Mrs Percy Landish! Mrs Manford lächelte über die Bescheidenheit ihres Sohnes, während sie gleichzeitig seine guten Vorsätze lobte. «Diese Erfahrung hat aus dem lieben Jim einen Mann gemacht», sagte sie, voll sanften Triumphs über diese jüngste Bestätigung ihres Optimismus. «Wenn es nur anhäl t …!», fügte sie hinzu und verfiel wieder in allzu menschliches Zweifeln.
    «Oh, bestimmt, Mutter, du wirst sehen – solange Lita seiner nicht überdrüssig wird», hatte Nona ihr versichert.
    «Solang e …? Aber liebes Kind, warum sollte Lita seiner je überdrüssig werden? Du vergisst
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