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Dämmerschlaf - Roman

Dämmerschlaf - Roman

Titel: Dämmerschlaf - Roman
Autoren: Edith Wharton
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aufzubürden. Denn es wäre eine Last. Manford hatte Jim sehr gern (wie sie alle) und war außerordentlich nett zu ihm gewesen. Es war einzig Manfords Einfluss zu verdanken, dass Jim, der als zerstreut und unzuverlässig galt, bei der Amalgamated Trust Company eine so gute Stelle bekommen hatte; und Manford gefiel es, wie sich der Junge in seine Arbeit hineinkniete. So war er eben, dachte Nona zärtlich; wenn man Jim erst einmal zu etwas brachte, erledigte er es immer unglaublich geschickt und mit großer Ausdauer. Und dass es für Lita und den Jungen geschah, war Ansporn genug, um ihn lebenslänglich an diese Aufgabe zu binden.
    Ein neuer Duft – unbekannt, aber köstlich. Umhüllt von ihm erschien Lita Wyant, halb tanzend, halb schwebend, eine Melodie summend, und während sie ihre Halskette zuhakte, drehte sich ihr kleiner, runder Kopf mit dem goldfischfarbenen Haar, dem perlmutternen Teint und den blinzelnden kastanienbraunen Augen auf dem langen Hals zur Seite wie der Kopf eines Vogels. Sie war überrascht, aber erfreut, Nona zu sehen, zeigte sich völlig ungerührt davon, dass Jim noch nicht zu Hause war, und hatte nicht die geringste Ahnung, dass der Lunch seit einer halben Stunde auf sie wartete.
    «Ich habe nach meiner Gymnastik ein Sandwich gegessen und einen Cocktail getrunken. Da werde ich wohl noch keinen Hunger haben», vermutete sie. «Aber vielleicht du, armes Kind. Wartest du schon lang?»
    «Nicht sehr lang! Ich kenne dich zu gut, um pünktlich zu sein», sagte Nona lachend.
    Lita machte große Augen. «Willst du damit andeuten, dass ich unpünktlich bin? Was ist denn dann mit deinem vorbildlichen Bruder?»
    «Er arbeitet in der Stadt, um für dich und deinen Sohn ein Dach über dem Kopf zu verdienen.»
    Lita zuckte die Achseln. «Ein Dac h … ich mache mir nichts aus Dächern, du etwa? Jedenfalls nicht aus diesem.» Sie packte Nona bei den Schultern, hielt sie auf Armeslänge von sich weg und fragte mit schiefgelegtem Kopf und bettelnd-beschwörender Miene: «Dieses Zimmer ist schrecklich, nicht wahr? Sag bitte, dass es schrecklich ist! Aber Jim will mir kein Geld geben, um es umzugestalten.»
    «Umgestalten? Aber Lita, du hast es vor zwei Jahren genau so gestaltet, wie du es wolltest!»
    «Vor zwei Jahren? Willst du damit sagen, dass dir etwas, was dir vor zwei Jahren gefiel, noch immer gefällt?»
    «Ja, genau!», erwiderte Nona und fügte etwas hilflos hinzu: «Und außerdem finden alle dieses Zimmer wunderba r …» Sie hielt inne, denn sie merkte, dass sie klang wie ihre Mutter.
    Lita ließ ihre kleinen Hände mit einer Geste der Verzweiflung herabsinken. «Das ist es ja gerade! Alle finden es wunderbar. Sogar Mrs Manford. Und wenn man bedenkt, was das für Dinge sind, die alle wunderbar finden! Warum so tun als ob, Nona? Es ist der typische Allerweltssalon. Jedes Paar, das im selben Jahr geheiratet hat wie wir, hat so einen. Als Tommy Ardwin – du weißt, der neue Innenarchitekt – ihn zum ersten Mal gesehen hat, sagte er ‹Meine Güte, wie gut ich das alles kenne!› und pfiff Home, Sweet Home !»
    «Das ist doch klar, du Dummerchen! Schließlich hätte er gern den Auftrag, ihn neu einzurichten!»
    Lita seufzte. «Wenn er das nur dürfte! Vielleicht könnte er mich mit diesem Haus versöhnen. Aber wahrscheinlich bringt das niemand fertig.» Sie blickte mit einer Miene unbeschreiblichen Ekels um sich. «Ich würde am liebsten alles, was hier drin steht, hinauswerfen. Ich langweile mich unsäglich.»
    Nona lachte. «Du würdest dich überall langweilen. Ich wollte, es käme jemand wie Tommy Ardwin daher und würde dir erklären, wie klischeehaft es ist, sich zu langweilen.»
    «Klischeehaft? Warum auch nicht? Wenn das Leben selbst so langweilig ist? Das Leben kann man nicht neu einrichten!»
    «Wenn du es könntest, was würdest du als Erstes hinauswerfen? Das Kind?»
    Litas Augen begannen Funken zu sprühen. «Sei nicht albern! Du weißt, dass ich mein Baby anbete.»
    «Gu t … dann Jim?»
    «Du weißt, dass ich meinen Jim anbete!», echote die junge Ehefrau, sich selbst nachäffend.
    «Nanu – das klingt ja bedrohlich!» Jim Wyant kam herein und sorgte mit seiner guten Laune für frische Luft. «Ich bekomme Angst vor meiner Frau, wenn sie sagt, dass sie mich anbetet», sagte er und umarmte Nona brüderlich.
    Wie er so dastand, ein wenig untersetzt, stämmig und hellbraun, mit seinen strahlend blauen Augen und der kurzen Nase in dem kleinen Gesicht, in dem alles so hübsch modelliert
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