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Dabei und doch nicht mittendrin

Dabei und doch nicht mittendrin

Titel: Dabei und doch nicht mittendrin
Autoren: Haci-Halil Uslucan
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weil ihnen vermeintlich höhere Authentizität durch die Perspektive des Betroffenen unterstellt wird. Personen, die von der Mehrheitsposition stärker abweichen, beweisen hingegen Mut und zwingen uns dazu, andere Aspekte sozialer Wirklichkeit zu berücksichtigen, auch wenn diese Meinung allgemein nicht geteilt wird und insbesondere am Anfang eines gesellschaftlichen Diskussions- und Aushandlungsprozesses sich kaum durchsetzen wird. Aber die kognitive Erschütterung, die von der Minderheitsposition ausgeht, ist deutlich stärker. Ihr Beitrag ist höchst wertvoll für die Qualität von Entscheidungsprozessen, weil diese zur Entdeckung neuer und richtiger Lösungen anregen. 98
    Was jedoch konkret unser Thema betrifft: Ein abweichender Standpunkt, der von einem Vertreter der eigenen Gruppe,also einheimischen Deutschen, zu Integrationsfragen geäußert wird, führt in einem höheren Maße zu einer Flexibilisierung des Denkens als abweichende Meinungen von Mitgliedern der Minderheit. Für einen Einstellungswandel in Fragen der gesellschaftlichen Zugehörigkeit (Wer ist Bestandteil des »Wir«?) sind deshalb nicht nur Migranten allein, sondern ist auch die (positive) Artikulation prominenter und anerkannter Vertreter der Mehrheitsgesellschaft notwendig. Denn sonst kommt es schnell zu einem Neutralisierungseffekt: Beschreibungen und berechtigte Forderungen von Minderheiten laufen Gefahr, in der Öffentlichkeit als bloße Lobbyarbeit wahrgenommen zu werden. Und dann wird auch kein Anlass gesehen, sich mit den vorgetragenen Argumenten, mit dem Wahrheitsgehalt der Aussagen, auseinanderzusetzen. Werden diese Argumente aber von Vertretern der Mehrheitsgesellschaft vorgetragen, ist zumindest die Notwendigkeit, sich den Inhalten zu öffnen und auf sie einzugehen, ihren Behauptungscharakter und ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen, größer. Denn zunächst kann nicht
per se
angenommen werden, dass diese Person aus Eigeninteresse diese Behauptung vorträgt. Die Widerlegung muss also inhaltlich erfolgen, und kann sich nicht auf die bloße Diskreditierung ihrer Glaubwürdigkeit beschränken.
    Heißt das, dass Programme und Maßnahmen, die einen anderen Blick auf Migranten erzeugen sollen, allein von Vertretern der Mehrheitsgesellschaft durchgeführt werden sollten? Nein, Migranten müssen dennoch in allen sie beziehungsweise die gesamte Gesellschaft betreffenden Angelegenheiten eingebunden sein. Vor allem die Existenz von
pressure-groups
, als Advokaten von Migranten, sind notwendig, auch wenn diese manchmal an den Etabliertenvorrechten kratzen und als »nervig« wahrgenommen werden, weil nicht erwartbar ist, dass gesellschaftliche Gruppen von selbst Macht abgeben. Migranten sollten jedoch nicht allein bei migrations- und integrationsbezogenen Fragestellungen zu Wort kommen, sondern sichzu allen gesellschaftlichen Problemlagen äußern können und äußern, damit in der Öffentlichkeit die Normalität der kulturellheterogenen Zusammensetzung der Gesellschaft deutlich wird. So sind zum Beispiel Gesundheit und Pflege, der Verkehrssicherheit, des Jugendschutzes, des Umweltschutzes, der Präimplantationsdiagnostik, der Festsetzung des Rentenalters, der Steuergerechtigkeit und des freiwilligen Engagements Themen, die Zugewanderte genauso berühren wie Einheimische und in denen ihre Stimme hörbar sein muss.
    Für eine Erweiterung des Einflusses sind auch staatliche und institutionelle Veränderungen notwendig: So ist politische Partizipationsmöglichkeit durch erleichterte Einbürgerung eine entscheidende Dimension, um Zugehörigkeitsgefühle zu wecken sowie ein Gefühl objektiver politischer Umweltkontrolle zu gewähren. Menschen, die nicht nur als Objekte politischer Steuerung durch Integrationsmaßnahmen angesprochen werden, sondern handelnde Subjekte sind und sich selber im sozialen Alltag einbringen, entwickeln ein höheres Gefühl der Verpflichtung, weil sie dabei auch immer sich selbst erleben. Das steigert die intrinsische Motivation beziehungsweise das Engagement »um der Sache willen« (also nicht allein, um Belohnungen zu bekommen), weil damit das Autonomie- und Kompetenzerleben des Subjekts berührt wird, die wiederum psychologische Determinanten motivierten Handelns sind. 99
    Ferner geht mit der Steigerung der Staatsbürgerschaftsraten auch ein höheres Maß an symbolischen Ressourcen (zum Beispiel Rechtssicherheit) für Migranten einher, die ein »Einlassen« auf die hiesige Gesellschaft und ein Ringen um den eigenen Platz
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