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Dabei und doch nicht mittendrin

Dabei und doch nicht mittendrin

Titel: Dabei und doch nicht mittendrin
Autoren: Haci-Halil Uslucan
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Vorwort
Die Türken und die Tücken des Integrationsdiskurses
    Manchmal ist die Luft in Deutschland dünn. Und sie wird für Türken gelegentlich noch dünner. Das liegt nicht nur an den Abgasen, sondern auch am intellektuellen Smog, der über ihren Köpfen schwebt. »Nun sind es 50 Jahre geworden, seitdem sie hier sind und nichts haben sie erreicht«, fliegt ihnen das vernichtende Fazit links und rechts um die Ohren. Im Gegensatz zu anderen Völkern glänzten sie durch hohe Integrationsresistenz und seien der deutschen Gesellschaft ein Klotz am Bein. Das Bemühen um ein Verstehen dieses Übels gilt als verlorene Liebesmüh und unnützes sozialpädagogisches Geschwätz. Vielmehr ist es in den letzten Jahren schick geworden, mit dem Gestus des Entronnenen Differenzierungen und Hintergründe hinter sich zu lassen 1 und endlich auszudrücken, was bislang vom Diktat der
political correctness
unterdrückt wurde. Schließlich habe man ja lange, viel zu lange Zeit Toleranz gezeigt und nun bedankten sie sich auf ihre Art und Weise: mit Desintegration, kulturellem Rückzug und Re-Islamisierung. Besonders wer hier in der ersten Person sprechen kann, sich etwa Seyran Ates oder Necla Kelek nennt, also selbst mal einer dieser üblen Menschen war und traumatisierende biographische Wunden erlitten hat, genießt im Diskurs hohe Glaubwürdigkeit und kann den – vielfach völlig unberechtigten – Vorab-Freispruch vom Rassismus nutzen, um ihn mit umso größerem Eifer zu verbreiten.
    Zwar kann wissenschaftlich die grassierende Unkenntnis in vielen dieser missionarischen Integrationsdebatten über die besonderen Akkulturationshürden türkischer Migranten leichtbelegt werden, dass sie etwa im Gegensatz zu Italienern und Spaniern nicht nur symbolisch-kulturelle Differenzen, sondern auch Modernitätsdefizite und technologische Entwicklungen nachzuholen haben, dass hier spezifische Unterschichtprobleme mit ethnischen vermischt werden und so weiter. Doch bleibt den hier lebenden Türken, jenseits der kompensierbaren Wissenslücken ihrer Ankläger, manchmal ein begrifflich nur schwer zu fassendes Gefühl: das Gefühl einer deplatzierten Existenz, das Gefühl eines Stiefkindes, das sich nicht traut, mehr Liebe und Verständnis von seinen Eltern zu fordern, und das, wenn es zart oder laut berechtigte Ansprüche äußert, böse Blicke erntet.
    Bleiben wir jedoch beim offen Aussprechbaren:
    1) Die Desintegration ist kein typisch türkisches Phänomen, auch Deutsche, etwa im Osten des Landes oder an sozialen Brennpunkten, sind von gesellschaftlichen Desintegrationsprozessen betroffen. Die Vorstellung, eine Gesellschaft sei völlig homogen und integriert und müsse es sein, verkennt die in allen Gesellschaften vorhandenen Spannungen, Interessengegensätze und Konflikte; und zwar unabhängig von der Existenz ethnischer Minderheiten. Denn gesellschaftliche Ressourcen sowie die Deutungshoheit über soziale Lebenslagen werden nicht einfach so verteilt, sondern wollen erstritten und erkämpft werden. Insofern ist ein gewisses Maß an Konflikt der Normalfall in allen modernen Gesellschaften. 2 Die Unterscheidung in integriert versus desintegriert kommt zwar unserem Vereinfachungsbedürfnis entgegen, ist jedoch für die Beschreibung der Sache unangemessen. Denn Integration folgt keinem Sekt-oder-Selters-Schema: Die Erkenntnisse der Migrationsforschung zeigen, dass soziale Integration vielfach segmentiert verläuft. Migranten mögen in einigen Bereichen relativ gut integriert sein, in anderen aber können und wollen sie weniger am gesellschaftlichen Leben teilhaben und ziehen ein Leben unter sich vor. 3 Hinzu kommt, dass wir in einemhistorischen Prozess befinden und nicht vom Ende einer abgeschlossenen Entwicklung aus auf ein gelungenes oder misslungenes Ereignis zurückblicken.
    Die Frage, was als eine gelungene Integration zu werten ist, lässt sich aus einer unbeteiligten Fremdperspektive nur schwer beantworten. Allein die Orientierung an den objektivierbaren Daten der strukturellen Integration von Migranten (Arbeitsmarkteinbindung, Bildung, politische Partizipation) reicht nicht aus, um die komplexe Lebenswirklichkeit abzubilden.
    Es ist deshalb sinnvoll und an der Zeit, stärker auch die emotionalen und psychischen Dimensionen in den Vordergrund zu stellen – denn das Leben wird nicht nur geplant und gedacht, sondern in erster Linie er-lebt. Und es ist auch an der Zeit, Migranten selbst – und zwar mit Blick auf ihre Erwartungen, ihre
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