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Dabei und doch nicht mittendrin

Dabei und doch nicht mittendrin

Titel: Dabei und doch nicht mittendrin
Autoren: Haci-Halil Uslucan
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ist also, was die türkischen Migranten betrifft, nicht allein ihre demographische beziehungsweise numerische Größe entscheidend, denn dann hätten sie eigentlich erheblich mehr mitzubestimmen, sondern ihre gesellschaftliche Macht. Deutlich wird dieser Aspekt, wenn wir uns sowohl historisch als auch aktuell »mächtige« Akteure vor Augen führen: So etwa die Macht der Priester in der Geschichte, der Wissenschaftler und der Banker in der Gegenwart, auch wenn ihre tatsächliche Zahl im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung verschwindend gering ist. Unter der Bedingung einer hohen Machtausstattung (finanzielle, symbolische Macht) kann auch eine Minderheit von der Norm abweichen, ohne Sanktionen zu befürchten, und den eigenen Platz in der Gesellschaft behaupten.
    Auf individualpsychologischer Ebene sind Abweichungen gegenüber einer Gruppe, und damit eine Rückweisung der zugedachten, zugeschriebenen gesellschaftlichen Rollen und Positionen dann möglich, wenn Menschen ein geringes Maß an sozialer Billigung verspüren und zugleich ein hohes Maß an Selbstwertgefühl haben. Denn Menschen mit einem großen Selbstbewusstsein sind weniger anfällig für Konformismus und Beeinflussung. Ängstliche dagegen sind eher geneigt, angepasst zu denken und zu handeln. Das Streben nach einer Bestätigungdes eigenen Urteils durch andere ist dann stärker ausgeprägt, wenn erstens Unsicherheit und Ungewissheit darüber herrschen, wie gut die eigenen Fähigkeiten und Kompetenzen sind, und zweitens der zu verhandelnde Gegenstand (der eigene Platz in der Gesellschaft) weder eindeutig festzustellen noch exakt messbar ist, wie etwa die Rolle, die Erwünschtheit sowie der Beitrag von Minderheiten in modernen Gesellschaften. Diese sind nämlich in der Regel alles andere als klar ersichtlich.
    Dann suchen Menschen noch stärker nach Bestätigung für ihre Haltungen über Dritte und sind geneigt, den eigenen Platz in der Gesellschaft durch Andere beziehungsweise durch andere Gruppen mitbestimmen zu lassen. 95
    Menschen mit einem hohen sozialen Status können Personen mit geringerem sozialen Status stärker beeinflussen als umgekehrt. Dies haben eindrücklich die Experimente zum Gehorsam gezeigt. 96 Für die gegenwärtige Integrationsdebatte lässt sich daraus folgender Schluss ziehen:
    Insbesondere Personen mit einem hohen Ansehen können in der Mehrheitsgesellschaft jene beeinflussen, die in bestimmten Fragen unsicher, unschlüssig oder indifferent sind. Sie bieten Argumente, ob die Integration von türkischen Migranten gelungen oder gescheitert ist, ob sie prinzipiell willkommen oder abzulehnen sind, welche gesellschaftliche Rolle ihnen zusteht oder welche ihnen zugewiesen werden sollte. Denn hält man alle anderen Faktoren konstant, so ist die Glaubwürdigkeit des Senders die entscheidende Variable für eine Meinungsänderung auf Seiten des Empfängers einer Botschaft.
    Dabei wird etwas vereinfacht von folgendem psychologischen Prozess ausgegangen: Der Empfang der Botschaft führt zu einer Veränderung der Einstellung; eine Veränderung der Einstellung führt zu verändertem Verhalten. Dies sind jedoch idealtypische Annahmen. Zwar sind die Beziehungen (Korrelationen) zwischen Einstellung und Verhalten in der Regel recht eng, dennoch gibt es keine Determinismen oder perfekte Zusammenhänge.
    Aber Einstellungen haben eine Schlüsselrolle, weil diese in der Regel leichter änderbar sind als das direkte Verhalten. Spontanes Verhalten von Menschen lässt sich mit zugrunde liegenden Einstellungen nur dann gut begründen, wenn diese auch leicht verfügbar beziehungsweise gut zugänglich, also stets bewusst sind. Sonst geben eher Situationsmerkmale für das gezeigte Verhalten den Ausschlag. Das geplante Verhalten aber lässt sich über Einstellungen deutlich besser vorhersagen, und zwar umso mehr, je spezifischer die Einstellung mit dem Verhalten zusammenhängt. 97 Für Integrationsfragen heißt das: Man muss nicht nur wissen, welche Einstellung eine Person allgemein zu Migranten hat, sondern auch welche sie zum Beispiel zu türkischen Migranten hat, um daraus das Verhalten gegenüber einem Türkeistämmigen vorherzusagen.
    Wie können aber Minderheiten sozialen Einfluss gewinnen? Minderheiten, die lediglich die Mehrheitsposition wiedergeben, erzielen kaum einen Einfluss. Von ihnen geht kaum ein innovativer Effekt aus, denn sie bieten informativ nichts Neues, auch wenn sie in der Integrationsdebatte quasi als »Kronzeugen« herangezogen werden,
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