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Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran
Autoren: Vanessa Giese
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noch, ragen direkt neben uns in die Höhe. Es wächst noch kein Busch und kein Grashalm, ein paar Bäume sind gepflanzt, am Ufer dümpeln Wasserpflanzen. Ein Rohbau, das Ganze, und doch promenieren die Dortmunder Bauherren wie Graf Kokse über die nass-staubigen Pfade, sehen dem Wasser beim Kräuseln zu und nicken wohlwollend über den Fortschritt.
    Ich hake mich bei Thorsten unter. Mareike geht voraus, mit Kopfhörern auf den Ohren. Am Kopf des Sees erreichen wir einen Hügel, das Innere des Lochs, aufgehäuft zu einem Berg, bestückt mit Spazierweg und rostigen Treppen. Thorsten bedeutet Mareike, dass wir hinaufgehen.
    Sie stöhnt, sagt: «Ich bleib hier unten», und setzt sich auf einen Stein am Ufer, die Kapuze ihres Sweatshirts auf dem Kopf und mit dem Fuß zum Rhythmus der Musik wippend.
    Thorsten und ich steigen die Treppen des Hügels hinauf. Der Wind frischt auf und drückt unsere T-Shirts gegen die Körper. Oben angekommen, blicken wir über den See bis zur Hörder Burg, über den gesamten Dortmunder Süden bis zum Stadion, sehen die Stahlgerippe von Phoenix West, in denen das Roheisen hergestellt wurde, bevor es zur Hermannshütte transportiert wurde, den See, dessen Fläche sich Tag und Tag weiter mit Wasser füllt, auch wenn es den Eindruck macht, als sei sie schon voll.
    Es weht ein leichter Wind hier oben, er riecht nach Wasser und See, nach Urlaub und Entspannung. In unserem Rücken, hinter einer Lärmschutzwand, ist die B 236 , die Nord-Süd-Verbindung von Schwerte nach Lünen, hoch zur A 2 , zur Verbindung nach Hannover. Dahinter: die Berghofer Mark, der Schwerter Wald, die ersten Hügel, eine Andeutung des Sauerlandes, dicht bewachsen.
    «Ist schon schön hier», sage ich.
    «Findest du?»
    «Ja.»
    Thorsten umarmt mich und drückt mich an sich. «Ich bin sehr froh, dass du den Weg ins Ruhrgebiet gefunden hast.»
    Ich gebe ihm einen Kuss. Eine Weile bleiben wir auf dem kleinen Berg, blicken auf die Spaziergänger am See hinab, auf die Grundstücke an der Südseite, auf die zwei Inseln, die im See schwimmen und zu denen man hinschwimmen könnte, wenn man denn dürfte.
    «Schon komisch, dass hier vor wenigen Jahren noch ein Stahlwerk stand», sage ich.
    «Strukturwandel», sagt Thorsten. «Bald ist hier alles anders.»
    «Meinst du? Und die Menschen?»
    «Nee, die nicht. So schnell ändern die sich nicht.»
    «Hoffen wir’s. Sie sind schließlich das Beste am Ruhrgebiet.»
    Wir lassen die Treppen links liegen, nehmen den Spazierweg und gehen in Schleifen den Hügel hinab, an dessen Fuß immer noch Mareike sitzt. Als sie uns kommen sieht, zieht sie einen Stöpsel aus dem Ohr und sagt: «Na, war’s romantisch?»
    «Sehr», sagt Thorsten. «Und bei dir?»
    «Geht so. Mama hat angerufen. Sie will mich gleich abholen. Der Nervzwerg hat doch heute Geburtstag.»
    «Mareike», Thorstens Stimme ist mahnend, «red vernünftig von deinem Bruder.»
    Sie stöhnt.
    «Na los», sagt er. «Dann gehen wir jetzt zur Bahn.»

    Ich kehre ohne die beiden nach Hause zurück, fische meine Hausschlüssel aus der Hosentasche und schließe die Tür auf. Am Büdchen gegenüber steht Schmidtchen mit einem Mann. Beide lehnen sich auf einen Stehbiertisch. Schmidtchen winkt mir. Ich stecke den Schlüssel wieder ein und gehe hinüber.
    «Hallo, Herr Schmidtchen», sage ich. «Wie geht’s Ihnen heute?»
    «Muss, Etteken, muss.»
    Schmidtchen ist heute zweigeteilt gekleidet: untenrum karierte Pantinen und ein fleckiger Frotteejogger, obenrum ein sauberes, tipptopp gestärktes Hemd. Er wäre ein klasse
Tagesschau
-Sprecher, der Karl-Heinz Köpcke aus dem Erdgeschoss. Er wedelt mit einem Brief.
    «Hier», sagt er. «Meine Lisbeth hat mir wat Liebesbrief geschrieben.»
    Mit seinem Handrücken wischt er sich durch den Augenwinkel. Das Spannbettlaken zieht sich.
    «Jedes Mal, wenn ich wat Liebesbrief von ihr kriech, hab ich so Käfer inne Augen.»
    Ich sehe mir das Kuvert an. «Blumen Braukmann. Floristikmeisterbetrieb und Friedhofsgärtnerei» steht in geschwungenen Buchstaben auf der Rückseite.
    «Letzte Woche hatter meiner Frau mit seine Harke den Schopf gekämmt. Und nu schreibt er mir in ihrem Namen wat Liebesbrief. Sind aber nur Zahlen drin. Dat is übrigens Werner.» Er deutet auf den Mann neben sich. «Kennze, odda? Werner, der vorher in deine Wohnung gewohnt hat.»
    Werner streckt mir die Hand entgegen. Er ist großgewachsen, ein stattlicher Mann um die 50 , seine Hand umschließt meine vollständig.
    «Ich dachte, Sie leben
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