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Da gewöhnze dich dran

Da gewöhnze dich dran

Titel: Da gewöhnze dich dran
Autoren: Vanessa Giese
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besser raus mit meim Appetit.»
    Mein Gesicht ist warm von der Kälte draußen, von meinen Tränen für Lisbeth und von der bollernden Heizung hinter der Holzverkleidung.
    Schmidtchen umfasst mit seinen arthritischen Altherrenfingern meine Hand und sagt: «War ich doch die Tage imma inne Totenhalle gewesen und hab mit meine Frau wat Zwiesprache gehalten. Hab se gefracht, wie et da oben is im Himmel. Und weißte wat, Etteken? Sie hat mir nich geantwortet, auch nache fünfte Frage nich. Aber dat is wie inne letzten 40 Jahre auch: Ich kann ihr einfach nich böse sein.» Er zwinkert sein Schmidtchen-Zwinkern. Ich lächle eine Träne weg, die sich in meine Augenwinkel drängt.
    «Dat Schlimmste is, dat ich gewusst hab, dat se stirbt. Und ob du’s glaubs odda nich, Etteken, dat war nich nur dat Schlimmste, dat war auch dat Schönste. Weil ich ihr adieu sagen konnte. Und weißte wat? Ich glaub, sie hat darauf gewattet. Sie hat gewattet, dat ich ihr sach: Lisbeth, mach dir keine Sorgen um dein alten Knopp, der kommt schon klar. Der hat die Petra und dat Gabi. Und dat Etteken kann er auch fragen, wenn er wat ausm Keller brauch. Wonnich, Etteken, kann ich doch, odda?»
    «Na klar.»
    «Ers, als ich ihr dat gesacht hab, hat se de Augen zugeklappt und ihren letzten Schnaufer getan. So isse, meine Lisbeth. Hat sich imma um mich gesorcht. Abba ich schaff dat getz schon. Ich hab ihr dat versprochen. Sonst schicktze mir am Ende noch ’n Blitz vom Himmel, wenn ich dat Leben schlüren lass.»
    «Sie kriegen das hin. Und wenn Sie etwas brauchen, klingeln Sie bei mir, ja? Auch wenn Sie sich alleine fühlen.»
    «Dat is lieb von dir, Etteken.»

    Auf dem Rückweg gehe ich am Ghettonetto vorbei. Wenn ich schon mal Urlaub habe, kann ich auch kochen und Schmidtchen heute Abend etwas vorbeibringen – damit es nicht immer nur Bratkartoffeln bei ihm gibt. Wirsingrouladen wären prima. Wirsingrouladen mit dunkler Soße wärmen das Herz, und Wirsing hatte ich schon seit bestimmt vier Monaten nicht mehr.
    In der Gemüseabteilung steht dort, wo Wirsing sein sollte, ein leerer Plastikkorb. Ein blondes Mädel, von dessen Ohren Kreolen baumeln, in denen kleine Äffchen schaukeln könnten, füllt gerade Möhren auf.
    Ich frage sie: «Haben Sie noch Wirsing im Lager?»
    Sie deutet auf den Chinakohl und sagt: «Wieso? Da isser doch.»
    «Nee», sage ich. «Das ist Chinakohl.»
    «Und das?» Sie deutet auf die Kiste daneben.
    «Das ist Weißkohl.»
    «Und das?»
    «Das ist Eisbergsalat.»
    «Dann ist das», sie deutet auf den Lollo bionda, «bestimmt auch Salat.»
    Ich nicke seufzend. «So ist es.»
    «Dann haben wir keinen Wirsing mehr.»
    Dann gibt es halt Spaghetti bolognese. An der Kasse kaufe ich außerdem eine Packung mit Osterglückskäfern, für gute Stimmung.

    «Wie war’s?»
    «Traurig.»
    Thorsten ruft von der Arbeit aus an. Im Hintergrund höre ich leise Musik. Er hört immer Musik, wenn er programmiert.
    «Katrin dreht grad total durch», sagt Thorsten.
    Nach meinem Kabinengeständnis ist sie zu ihm hingelaufen, wirklich gelaufen, ihre Tasche hat sie im Kabinengang gelassen, damit sie schneller zu ihm hinrennen kann. Sie hat ihn geknufft und geherzt, hat ihn ausgefragt und uns danach zu sich eingeladen, um alles zu erfahren. Wir haben sie besucht, sie wohnt in einer Dreizimmerwohnung in Hombruch, einem Vorort im Süden, ungemein bürgerlich, mit Genossenschaftswohnungen, Kehrwoche und Kellerdienst. Wir haben ihr vom Klettern und von Melanies Armbruch, aber sonst von nichts erzählt – weil wir verlegen sind und weil es, ehrlich gesagt, auch nicht mehr zu berichten gibt. Wir wissen selbst noch nicht, was aus uns wird, haben uns auch noch keine Gedanken gemacht. Wir zwinkern uns nur auf der Arbeit zu, mit Schmidtchen-Zwinkern, Melanie denkt, es sei unsere neue Marotte – ist es auch, sie weiß nur nicht, inwiefern, und bevor sie wieder nach dem Benz fragt, schweigen wir lieber.
    Dabei war es ausgerechnet beim Benz-Einparken, dass Thorsten mich wieder verblüfft hat. Oder war ich vielmehr von mir selbst überrascht? Aufgeregt wie ein i-Dötzchen hatte ich den Moment erwartet, in dem wir uns das erste Mal unbekleidet sahen, in dem wir uns spürten und schmeckten – wir, die wir uns sonst nur steril begegnet sind, die wir uns nicht einmal in Shorts oder im Jogginganzug kennen, die wir bislang auf Abstand waren, seriös, in einem Reinraum ohne Gefühle, zumindest nicht mit solchen, solch ungestümen. Doch wir waren erstaunlich routiniert
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