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Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Titel: Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
Autoren: Heyne
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definierte Normalität folgendermaßen: Psychisch gesund ist, wer arbeits- und liebesfähig ist.
    Das ist doch ein relativ einfacher Merksatz, mit dem sich leben lässt.
    Immer wieder höre ich von Patienten, dass deren Verwandte oder Freunde diesen Satz besonders gern sagen:
    Heute meint doch jeder, er müsse zum Psychotherapeuten rennen.
    Oft kommt dann noch der Zusatz:
    Das sind doch alles Leute aus der gehobenen Mittelschicht, die sich ihre Probleme nur einreden.
    Sind Sie auch dieser Meinung?
    Seien Sie gegrüßt! Ich komme vom Planeten Erde und finde es immer wieder spannend, Lebewesen aus Paralleluniversen zu begegnen, wo Dinge offenbar völlig anders sind als bei uns.
    Aber im Ernst: Möglicherweise beziehen die Leute, die diese Meinung vertreten, ihre Vorurteile aus dem Konsum von Filmen und Serien, die über den Großen Teich zu uns kommen. Dass das amerikanische Gesundheitssystem – gelinde gesagt – ein ganz kleines bisschen anders ist als bei uns, hat sich inzwischen herumgesprochen. In vielen Ländern wird die psychotherapeutische Behandlung nicht von den Krankenkassen übernommen, und tatsächlich kann nur die gehobene Mittelschicht sie sich leisten. Deshalb gibt es dort möglicherweise neben Patienten, die sich von ihren Symptomen in ihrer Lebensqualität stark beeinträchtigt fühlen, auch solche, für die Psychotherapie tatsächlich eher Abenteuer- als Heilungscharakter hat.
    In Deutschland hingegen sind Psychotherapiepatienten laut Statistik weder besonders jung noch besonders reich, nicht einmal intelligenter als andere Menschen. Vielmehr bilden sie in all diesen Bereichen ziemlich genau die Verteilung in der Bevölkerung ab. Mit zwei Ausnahmen: Alte Menschen kommen seltener in Psychotherapie, aus dem gleichen Grund, aus dem alte Menschen häufig nicht genug trinken – weil es früher nicht üblich war.
    Und Männer suchen seltener einen Psychotherapeuten auf als Frauen. Was nicht verwunderlich ist. Das Geschlecht, das vor Erfindung des Navis eher einen halben Tag im Kreis gefahren ist als nur einmal einen Passanten nach dem Weg zu fragen – das wird sich doch erst recht niemandem anvertrauen, wenn es um unerklärliche Ängste geht. Sondern es fährt lieber weiter im Kreis.
    Übrigens bevorzugen sowohl männliche als auch weibliche Patienten meist Psychotherapeutinnen. Auch das ist nicht verwunderlich, da schon Kinder lernen, sich mit ihren Kümmernissen eher der Mama als dem Papa anzuvertrauen. Da es aber mehr Psychotherapeutinnen als Psychotherapeuten gibt, passt es dann wieder. Auf einen männlichen Therapeuten kommen zwei weibliche.
    Die Menschen, die behaupten, heute renne doch jeder gleich »zum Psychologen«, wenn er nur einmal schlechte Laune habe, sind die gleichen, die meinen, eigentlich gäbe es überhaupt nie einen Grund, in Psychotherapie zu gehen. Und höchstwahrscheinlich sind es die gleichen, die der Meinung sind, wer unter einer schweren Depression leide, müsse nur öfter mal an die frische Luft gehen, und schon werde er auf der Stelle gesunden.
    Schütteln Sie nicht den Kopf, genau das ist es, was meine depressiven Patienten mir erzählen. Anscheinend wird das im Doppelpack geliefert: Depressive Erkrankungen und Angehörige, die der Meinung sind, das sei doch alles nur eine Frage der Einstellung. Man müsse sich nur ein bisschen am Riemen reißen, an etwas anderes denken, und schon sei die Sache geritzt. Und wenn das alles nicht helfe, sei Arbeit immer noch die beste Medizin.
    Nichts gegen Frischluft. Die kann ebenso stimmungsaufhellend wirken wie Karaokesingen, Sushihäkeln oder die Teilnahme an Traktorrallyes. Gesetzt den Fall, dass die Stimmung eben nur ein wenig Aufhellung braucht. Solange das noch funktioniert, handelt es sich allenfalls um eine leichte depressive Verstimmung, nicht um eine Depression. Aber erzählen Sie das mal den Angehörigen von Depressiven.
    Trotz aller Vorurteile, trotz vieler in der Gegend herumschwirrender Falschinformationen gibt es Menschen, die es tatsächlich schaffen, zu erkennen, dass eine Psychotherapie hilfreich für sie sein könnte, und die es schaffen, den Weg dorthin zu finden. Schauen wir uns einmal an, was das für Menschen sind, die eine Psychotherapie machen.
    Diejenigen, die sich zu einer Psychotherapie entschließen, unterscheiden sich in einem wesentlichen Punkt von denen, die es nicht tun:
    Sie sind tapferer.
    Ja, das meine ich ernst.
    Sie stellen sich einer Situation, die nicht immer einfach ist, einer Situation, die
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