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Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin

Titel: Da gehen doch nur Bekloppte hin - aus dem Alltag einer Psychotherapeutin
Autoren: Heyne
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wundern.
    Viele Menschen glauben, dass Psychotherapeuten nichts lieber tun, als sie danach einzusortieren, ob sie normal sind oder nicht. Dabei nehmen wir das Wort »normal« normalerweise nicht einmal in den Mund.
    Normal bedeutet nichts anderes als »der statistischen Norm entsprechend«. Mit anderen Worten: Mittelmaß. Und wollen wir nicht alle lieber ein bisschen ungewöhnlich sein statt Mittelmaß?
    In der Pubertät ist die Frage »Entspreche ich der Norm?« ungeheuer wichtig. Der geschützte Rahmen der Familie wird probeweise ab und zu verlassen, und die Aufgabe besteht darin, herauszufinden, ob man sich auch in der Welt außerhalb zurechtfinden kann. Vorsichtshalber zunächst einmal unter Gleichaltrigen. Weder zuvor noch danach ist der Anpassungsdruck je wieder so stark wie in dieser Zeit. Die Freunde legen fest, was man anziehen darf, welche Musik man hören darf, wer der erste Freund oder die erste Freundin sein darf und mit wem man sich heillos blamieren würde. Individualität ist streng verboten. Zu einer Zeit, in der man sich von den Eltern nicht mehr das Mindeste sagen lassen möchte, unterwirft man sich dem ungleich strengeren Regiment der Gleichaltrigen, ohne mit der Wimper zu zucken.
    Wenn Sie sich öfter die Frage stellen, ob Sie normal sind, steckt vielleicht noch ein Stückchen Pubertierender in Ihnen, der genauso sein will wie der coolste Typ der Klasse, und der Angst hat, zum Außenseiter zu werden, weil er klassische Musik hört oder gar heimlich Briefmarken sammelt.
    Mit psychischer Gesundheit hat das nichts zu tun, im Gegenteil. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Menschen besonders glücklich sind, die sich Individualität erlauben. Ein Großteil psychotherapeutischer Arbeit besteht darin, die Patienten gerade dazu zu ermutigen.
    Von Menschen, die sich in großem Maße gestatten, ein Individuum zu sein, sagen wir, sie hätten einen Spleen oder seien exzentrisch. Manche Leute beschließen, am Wochenende mit anderen in einem Indianerdorf zu leben, und bringen jede freie Minute damit zu, ihre Mokassins selbst zu nähen. Andere haben im Garten echte Feuerwehrautos stehen oder sie häkeln Sushi. Doch, das kann man tun. Sieht übrigens sehr nett aus.
    Ob das der statistischen Norm entspricht oder nicht, interessiert den Psychotherapeuten so wenig wie der sprichwörtlich umfallende Sack Reis in China. Ihn interessiert nur, ob Sie dabei glücklich sind oder nicht. Wenn Sie das Ganze nur Ihrem Mann zuliebe tun (wobei es den meisten Männern relativ egal ist, ob man Sushi häkelt oder nicht, solange man sie bereitwillig zu Veranstaltungen begleitet, bei denen alte Motoren gezeigt werden), deshalb depressive Symptome entwickeln, das aber nicht durchschauen und deshalb zu uns kommen – dann wird es interessant für uns. Ansonsten können Sie so lange tomahawkschwingend ums Lagerfeuer tanzen, wie es Ihnen Spaß macht. Das entlastet unsere Wartezimmer und unsere Wartelisten.
    Etwas ganz anderes ist es, wenn Sie leiden. Gegen Leiden sollte man auf jeden Fall versuchen, etwas zu unternehmen. Oder wenn Sie Ihre Individualität auf Kosten anderer ausleben. Wenn Sie meinen, Ihr Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung schließe ein, in den Vorgarten des Nachbarn zu pinkeln oder ihn einen Faschisten zu nennen, der seine Frau nur deshalb schlägt, weil er sich nicht traut, sein uneingestandenes Schwulsein auszuleben – da endet Ihr Recht auf Individualität. Auch wenn Sie noch so überzeugend vorbringen können, dass Ihr Nachbar ein frauenfeindlicher, rechtsradikaler, verklemmter Vollpfosten ist. Selbst wenn Sie damit höchstwahrscheinlich recht haben.
    Mit der Normalität ist es also ganz einfach. Wenn etwas Spaß macht, Sie sich damit nicht selbst schädigen und Sie niemandem wehtun – tun Sie es, um Himmels willen. Und danken Sie dem Schicksal oder einer Gottheit Ihrer Wahl dafür, dass Sie in einem Land leben, das so viel Individualität gestattet.
    Die Zeiten, als Psychotherapeuten noch am liebsten untersucht haben, was ihren Patienten fehlt, sind lange vorbei. Der Psychotherapeut der Jetztzeit stellt viel lieber fest, was ein Patient gut kann. Auf Patienten, die meinen, sie können gar nichts gut, können dabei ein paar nette Überraschungen warten. Und bei dem, was die Patienten so richtig granatenmäßig versiebt haben, wird geschaut, wie das geschehen konnte, und wie man es besser machen könnte.
    Zum Thema Normalität hier noch die Meinung Sigmund Freuds, des Begründers der Psychoanalyse. Er
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