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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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so viel Futter, dass sie nicht sterben, aber bissig bleiben.
    Lange, dunkle Kolonnen, bestimmt Ratten, schlüpfen unter den Türen der Lagerhäuser durch. Dort, vor dieser Tür, würfeln Soldaten.
    Mit leiser Stimme rufe ich Cristóbal. Ich hätte gerne seine Erlaubnis. Es war nicht vorgesehen, dass ich seine Geschichte erzähle. Ich wiederhole, er hatte die Sorge dafür Fernando übertragen, seinem zweiten Sohn. Wird es mir gelingen, unsere Leidenschaft während all dieser Jahre deutlich zu machen?
    Heute Morgen wurde, wie fast jeden Morgen, eine Messe zum Gedenken an den
Entdecker
gelesen.
    Den ganzen Gottesdienst über musste ich an sein
Buch der Prophezeiungen
denken, und ich fragte mich, ob der Titel Entdecker meinem Bruder zugesagt hätte: Er glaubte, sein Kommen sei verkündet worden. Er sei dazu ausersehen gewesen.
    Daher war sein Werk für ihn keine Entdeckung. Vielmehr eine
Erfüllung.
Ich bin mir sicher, dass er sich in seinen Augen damit begnügt hatte, Gottes Pläne zu verwirklichen.
    Als ich diesen Gedanken weiterspann, wurde mir klar, dass die Indianer auf dieser Insel Cristóbals Universum teilten. Auch sie lebten in den Zeichen der Vergangenheit. Als sie uns an ihren Stränden ankommen sahen, haben sie uns auch nicht
entdeckt:
Sie haben uns
wiedererkannt.
Deshalb konnten wir so leicht über sie triumphieren. Wie soll man auch in sich die Kraft aufbringen, gegen Ereignisse zu kämpfen, die seit Anbeginn der Zeit, seit der Traumzeit, vorgesehen waren?
     

    Wenn die Nacht zu bedrückend ist und wenn meine Beine zu schwer sind, um auf meinen Aussichtspunkt zu klettern, wandereich mit einer Kerze die Wände entlang, diese Mauern aus Korallenstein. Ich sehe die Muscheln, erstarrte Libellen, Fischskelette, Zweige von Schwämmen, winzige Wälder. Ich bin richtig neidisch auf diese Steine: Sie brauchen keine Sätze, um zu erzählen, und ihre Geschichten fürchten weder Bibliotheksmäuse noch Überschwemmungen oder Brände, sie haben sich ihnen ein für alle Mal eingeschrieben. Warum nur habe ich für meinen Bericht nicht diesen Ehrgeiz?
    Nun denn, meine sieben Tage Ruhezeit gehen zu Ende. Ich muss das Versprechen halten, das ich Las Casas gegeben habe, muss fortfahren und, koste es, was es wolle, die Wahrheit in Angriff nehmen.

 
     
     
     
    Vielleicht war von vornherein der Wurm drin? Vielleicht steckte die Gewalt der Entdeckung bereits in der Gewalt des Aufbruchs?
    Freitag, 3. August 1492.
    Welchen Platz nimmt dieses Datum in Gottes Kalender ein? Welchen Jahrestag wollte Er damit feiern, dass Er sich an diesem Tag zwei Schauspiele von solcher Eindringlichkeit geleistet hat? Allmächtig, wie er ist, hätte Er das eine oder das andere verlegen können, um zu vermeiden, dass sie zusammenfallen. Und umso mehr Gefallen hätte Er an jedem gefunden.
    Aber es war nicht Sein Wille.
    Er hatte also einen Plan. Den ich noch heute suche.
    Mir scheint, ich täte gut daran, vor dem Sterben beides zu entleeren: die Blase und das Gedächtnis. Dann fühlt man sich leichter, wenn man diese Erde verlässt. Gerade habe ich mir den Bauch geleert. Jetzt sind die Erinnerungen dran.
    3. August. Die Juden hatten nur diese Frist im Kopf: An diesem Tag mussten sie alle das Königreich verlassen haben. Ein Beschluss von Königin Isabella und König Ferdinand.
    3. August. Warum hatte mein Bruder genau diesen Tag gewählt, um die Anker zu lichten? Hatte er den Befehl dazu erhalten, und welche Autorität hatte ihm diesen Befehl gegeben?
    Ich könnte dir von dem Kampf erzählen, den Cristóbal und seine Mannschaften führen mussten, um sich vor den Juden zu retten, die verzweifelt nach einem Schiff suchten. Ich könnte für dich das Bild der seitdem legendären
Santa Maria,
der
Pinta
undder
Niña
heraufbeschwören, die bei einem glorreichen Sonnenuntergang den Hafen von Palos verließen. Ich könnte dir sehr genau und gefühlvoll beschreiben, wie die zusammengewürfelte Flotte langsam Richtung Meer verschwindet, die drei Karavellen zwischen all den anderen Booten jeglicher Art, die diejenigen für ein Vermögen erworben hatten, die man zwang, das Land zu verlassen. Ich könnte dir das Weinen und die Gesänge der Exilanten unter dem Hohngelächter der Möwen zu Gehör bringen. Ich könnte… Die Verführung ist groß. Dieses tägliche Beichten hat in mir ein Vergnügen geweckt, das ich bisher nicht kannte, das Vergnügen am Erzählen, den Rausch, mit Worten einzufangen, ohne immer die Wahrheit zu achten.
    Dieses Mal widerstehe ich
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