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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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zugehört. Ohne sich zu rühren, wie Tote. Nur die Finger von Hieronymus bewegten sich und schrieben mit.
    Erzählen ist nichts anderes als segeln. Man muss eine gute Windströmung finden. Dann genügt es, sich treiben zu lassen. Ich hatte eine gute Strömung gefunden: Cristóbal.
    Ich wartete eine Weile, dass einer der beiden sich wenigstens aus Höflichkeit nach meinen acht Jahren in England und Frankreich erkundigte… Keine Frage kam. Es überraschte mich nicht. Das Einzige, was sie interessierte, war Cristóbal.
    Also stand ich auf:
    «Weiter habe ich nichts zu sagen. Den Fortgang kennt Ihr besser als ich: wie mein Bruder schließlich Königin Isabella und König Ferdinand überzeugte. Dann der berühmte Aufbruch am 3. August 1492 von Palos de Moguer.»
    Sie erhoben sich ebenfalls von ihren Stühlen. Las Casas nahm meine beiden Hände. Er bedankte sich mehrmals herzlich und anscheinend aus Überzeugung.
    Dann wünschte er mir Wohlergehen.
    Denn er segele nach Spanien. Er wolle zusammen mit Montesinos für die Sache der Indianer eintreten. Bei seiner Rückkehr wolle er sich natürlich bemühen, «unser Gespräch» fortzusetzen.
    «Wir sind die Antwort schuldig geblieben, nicht wahr? Warum wurde aus dieser Neugier, diesem Entdeckerfieber plötzlich die allerschrecklichste Grausamkeit?»
    Ich habe ihm zweierlei versprochen: mich zu bemühen, dieses Rätsel weiter zu erhellen. Und zu versuchen, am Leben zu bleiben.
    Sie gingen fort, zwei weiße Gestalten, die von den Passanten gegrüßt wurden. Ich sah ihnen einen Augenblick lang hinterher und wollte gerade in mein Refugium verschwinden, als Las Casas zurückkehrte:
    «Ich habe es mir überlegt: Bruder Hieronymus bleibt auf der Insel. Ich empfehle ihn Euch als Beichtvater. Ich kenne Euch jetzt gut. Eine verfolgte Seele wie die Eure braucht Begleitung bei der Vorbereitung auf den Tod.»
    Ich lehnte sein Angebot ab. Jetzt musste ich mich der Sache stellen: Ich musste die Qualen der Erinnerung ganz allein auf mich nehmen.

III
Die Grausamkeit

 
     
     
     
    I  ch habe beschlossen, mir eine Pause zu gönnen. Sieben Tage lang will ich versuchen, meine Vergangenheit zu vergessen. Die Gegenwart ist angenehmer.
    Mein Grab ist schon fertig: Ich wohne darin. Das Alcazar ist eine große Kiste, durchlöchert von winzigen quadratischen Fenstern, vielleicht um der Welt zu zeigen, dass ein Palast nichts zu sehen braucht, um zu wissen. An der Ost- und der Westfassade verläuft auf halber Höhe eine Galerie. Sie sind mit Arkaden geschmückt. Niemand durchschreitet sie je. Gut möglich, dass die Soldaten, die sich vor der schweren Eingangstür die Füße in den Bauch stehen, meinen, sie würden einen leeren Palast bewachen.
    Das Alcazar ist aus hiesigem Gestein gebaut, das aus Korallen besteht. Daher kommt es, dass die Steine zerfressen aussehen: Einst badeten sie im Meer, das sich ringsum gefräßig erstreckt. Häufig streiche ich mit der Handfläche über ihre raue Oberfläche und sage ihnen Dank: Unter euch zu leben, gibt mir das Gefühl, den Ozean nie verlassen zu haben, obwohl ich zu meinem großen Leidwesen nicht mehr zur See fahren kann. Wenn niemand mich sieht – ich möchte meinem bereits fest verankerten Ruf, verrückt zu sein, kein neues Kapitel hinzufügen –, lege ich sogar das Ohr an den einen oder anderen dieser zerfressenen Steine. Und wie bei einer Muschel höre ich dann das Rauschen der Brandung.
    Es fiele mir nicht ein, mich zu beklagen. Mein geliebter Neffe erweist sich als so zuvorkommend, wie er kann. Wann immerseine Regierungspflichten ihm die Zeit lassen, kommt Diego persönlich und erkundigt sich nach meinem Wohlergehen.
    Aus Achtung, für die ich ihm dankbar bin, wollte Diego, dass seine Räume den meinen genau gleichen: ein Vorzimmer, ein Schlafzimmer, ein Arbeitszimmer. Wir bewohnen beide den Nordflügel des Palasts, er den ersten Stock, ich das Erdgeschoss. Unsere Leben decken sich – sieht man davon ab, dass er lebt und über Indien herrscht, dass er unsere Insel regiert, während ich überhaupt nichts mehr bin.
    Durch meine Decke höre ich ihn vom frühen Morgen bis spät in die Nacht arbeiten. Dabei dürfte ich ihn kaum stören. Was wäre unscheinbarer als ein Leben, das seinem Ende zugeht?
    Ein anderer Unterschied zwischen seinem und meinem Stockwerk ist eine Frau, seine Gattin María, von der alle sagen, er liebe sie. Ihre Zimmer grenzen an der Westseite an seine. Vielleicht wollte er jene Gleichheit unserer Wohnungen, um mich an den
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