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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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doppelten Graben zu erinnern, der uns trennt, den der Macht, die ich nicht mehr habe, und den der Liebe, die ich nie hatte. Gute Taten sind oft mit schlechten Absichten verwoben.
    Woher kommt dieser plötzliche Anflug von Bitterkeit? Das Alter ist eindeutig ein schlechter Ratgeber. Seit seiner Geburt, seit Porto Santo, waren mein Neffe und ich stets mehr als Freunde: Wir waren Verbündete. Was kümmerten uns siebenundzwanzig Jahre Altersunterschied? Ein Instinkt hat uns sofort zusammengeführt: Menschen, die einem Mann wie Cristóbal nahestehen, können die Gewalt und die Unerschöpflichkeit seiner Energie nur überleben, wenn sie sich verbünden.
    Glauben Sie bloß nicht, ich langweile mich. Neben meiner täglichen Erinnerungsarbeit fehlt es mir nicht an Abwechslung. Jeden Freitag zum Beispiel begleite ich den Vizekönig bei der Besichtigung der Neubauten.
    Dann ziehen wir los, um drei Stunden in Sand und Schlamm zu waten, um allen Staub der Welt zu schlucken, um uns bei jedem Schritt beinahe die Knochen zu brechen, wenn wir uns auf wackligenBalken oder noch nicht zementiertem Mauerwerk bewegen, um auf sämtliche Handwerkerzünfte nacheinander zu schelten, die zu jeder Unverschämtheit imstande sind, allen voran zu ewiger Verspätung. Man muss einmal gesehen haben, wie der amtierende Gouverneur und sein Vorgänger (Diego und ich, der Neffe und der Onkel) sich gegenseitig am Arm fassen, sich drängeln, mit dem Finger auf einen Ausblick hinweisen, dann auf einen anderen und noch einen anderen und wie beide sich freuen, die schöne, so schöne Stadt Santo Domingo aus dem Boden wachsen zu sehen. Ah, der mächtige Bergfried, der Torre del Homenaje! Wer uns angreifen will, dem wünsche ich viel Mut. Diese elegante Fassade! Vielleicht ein bisschen zu freundlich für einen Konvent, zumal für einen der Dominikaner. Weißt du, wer der erste Besitzer des Hauses dort war? Francisco Garay, ich kannte ihn gut, er war ein Diener deines Vaters. Diese Fundamente müssen wahrlich für ein riesiges Bauwerk sein. Du kannst deinem Freund Las Casas ausrichten, dass sich sein Orden sputen muss. Die Franziskaner werden bald ein äußerst mächtiges Kloster haben! Fühlst du dich stark genug, mein guter Bartolomeo, um in die Abwasserkanäle hinunterzusteigen? Das von Nicolas de Ovando geplante Netz reicht nicht mehr aus. Ich habe angeordnet, es zu erweitern…
    Von allen Aufgaben eines Vizekönigs ist ihm die des Bauherrn am liebsten. Ich kenne diesen Rausch noch von mir, aus der Zeit, als ich eine Stadt gründete. Zu sehen, wie eine Idee zur Zeichnung wird, wie die Zeichnung Stein wird und aus den Steinen Kirchen, Paläste, Hospitäler werden, dann das Leben zu sehen, das Gewimmel der Menschen, die sich dort niederlassen, wo kurz zuvor nur Gras und Bäume wuchsen… Ein gefährlicher Wahn lauert auf den, der meint, er sei die Ursache dieser Kette von Veränderungen, der Wahn, er sei, wenn schon nicht der Schöpfer selbst, so doch jemand aus der Zunft Gottes.
    Diese Spaziergänge verschaffen mir auch ein weiteres Vergnügen, von dem ich leider zugeben muss, dass es noch größer ist als jenes, das der Städtegründer empfand.
    Es ist ein Feuer, das in meinem Bauch brennt wie die Lust, die mich einst beim Anblick einer Frau packte; es ist ein hämisches Grinsen, das meinen Kiefer verzerrt. Es ist eine helle Freude, die in
einem
Schwung ins Innere meines Schädels strömt und meinen Beinen trotz ihrer Schwäche zu tanzen befiehlt. Es ist, sagen wir es frei heraus, die unvergleichbare Wonne der Rache.
    Vergessen Sie nicht, dass sich eine Truppe Spanier, die gieriger war als die anderen und noch weniger Moral besaß, kaum dass mich mein Bruder am 5. März 1496 zum
Adelantado
und Gouverneur dieser Insel ernannt hatte, gegen die Ordnung erhob, der ich damals Geltung zu verschaffen gedachte. Ein gefährlicher Kapitän namens Francisco Roldán hatte sich an ihre Spitze gestellt – möge ihn Las Casas in seiner Chronik als den darstellen, der er war, ein Bandit von der schlimmsten Sorte!
    Darauf folgte ein echter Bürgerkrieg.
    Diese Rebellen brachten, ich weiß nicht, wie, ihr Anliegen vor die Königin und den König, und was noch unerhörter war, sie überzeugten diese davon, dass ich abgesetzt werden müsste.
    Mein Nachfolger kam im Sommer 1500 an, und seine erste Maßnahme war, dass er Cristóbal und mich im Kielraum einer Karavelle in Ketten legen ließ.
    Und so wurden wir wie Verbrecher nach Spanien zurückgebracht, wo wir nicht viel Zeit
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