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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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heldenhaft.
    Dieses Mal belüge ich dich nicht.
    Ich kam zu spät, ja, du hast richtig gehört,
zu spät,
um zu erleben, wie mein Bruder ablegte. Die Schuld trägt er, denn er hatte es nicht für nötig erachtet, mich zu benachrichtigen. Außerdem kenne ich die Seeleute: Ihre Entscheidungen gehorchen nicht dem Kalender; sie stechen in See, wann es ihnen gut dünkt.
    Die Schuld tragen auch Königin Isabella und König Ferdinand: Wegen ihres Beschlusses waren die Straßen verstopft. Einige Juden suchten Zuflucht in Portugal. Die meisten flohen in den Süden.
    Es war unmöglich, schneller zu sein: Unzählige Familien waren auf der Straße, beladen wie Packesel. Über die Felder auszuweichen war nutzlos und gefährlich: Dort erwarteten uns Bauern mit Mistgabeln und Hunden. Es blieb mir nichts anderes übrig, als mich dem Flüchtlingszug anzuschließen.
    Zwei Tage war ich ein Gefangener meiner Wut und grollte ohne Ende gegen die ganze Welt, die schuld daran war, dass ich den wahren Beginn des Unternehmens verpassen würde.
    Doch dann wendete ich mich allmählich den Nöten meiner Weggefährten zu.
    «Wie lange habt Ihr in Spanien gelebt?»
    Um mich herum schlug man sich darum, mir zu antworten. Einkleines Mädchen trug den Sieg davon, denn ihre Stimme war die hellste:
    «Seit der ersten Zerstörung des Tempels von Jerusalem!»
    Stellen Sie sich meine Verblüffung vor.
    Ein alter Mann, den ich von Zeit zu Zeit bei seinem Marsch stützte, ergänzte mein Wissen:
    «Das Mädchen meint das Jahr 585 vor unserer Zeit. Wir sind vom Stamm Benjamin. Wir lebten in Toledo. Wisst Ihr, woher dieser Name stammt?»
    Ich gestand, dass ich keine Ahnung hatte. Wir hatten Zeit, uns ein wenig zu unterhalten. Ich hatte ihm von meinem Interesse an der Herkunft von Namen erzählt.
    «Aus dem Hebräischen, von
taltelah,
das so viel wie Mühsal bedeutet.»
     

    Der 3. August war vorüber. Mit meinem Pulk Juden gelangte ich endlich nach Palos, wo schon seit Tagen andere Juden in großer Zahl von einer Stelle zur anderen eilten.
    Gehen, kommen, sich entfernen, sich verlieren, sich wiederfinden… Nie zuvor waren so viele Menschen auf den Beinen, und nie zuvor haben Menschen so viel Staub aufgewirbelt. Der August ist die Sommermitte, der Höhepunkt der Trockenheit. Seit Monaten war kein Regen mehr vom Himmel gefallen, und da die Elemente vom Wasser vereint werden, war die Erde nur noch Sand, der beim bloßen Auftreten des Fußes in die Luft wirbelte.
    Gott, der durch Seine Widersprüche noch größer ist, gelobt sei Er in alle Ewigkeit, hatte sicher nicht gewollt, dass dieses Schauspiel der Verzweiflung allzu deutlich sichtbar wurde, obgleich Er es zuließ. Daher hatte er dem Wind untersagt, sich zu erheben.
    In diesem gelblichen Dunst wurde ein letzter, entsetzlicher Markt abgehalten.
    «Ich möchte ein Schiff. Wir sind zu acht.»
    «Der macht wohl Witze! Seit einer Woche gibt es keine einzige Planke mehr.»
    «Wie viel gibst du mir für diese Silberplatte?»
    «Fünf Pesos.»
    «Aber sie ist tausend wert.»
    «Greif zu oder lass’ es bleiben.»
    «Wollt Ihr ein Haus in Madrid kaufen? Ich habe einen Besitztitel.»
    «Ich gebe dir meinen Esel dafür.»
    «Wie bitte? Ich habe wohl nicht richtig gehört bei all dem Lärm hier.»
    «Ihr Juden habt offenbar ein Häutchen im Ohr. Müsste mal beschnitten werden. Ha, ha! Ich wiederhole: Mein Esel für dein Haus! Greif zu oder lass’ es bleiben.»
    «Greif zu oder lass’ es bleiben», «greif zu oder lass’ es bleiben», das war der Refrain, der auf dem Markt von Palos überall zu hören war, regelmäßig unterbrochen von einem anderen, den ein Soldat rief, immer derselbe, dem es offenkundig Vergnügen bereitete, die Menschenmenge wieder und wieder zu spalten:
    «Juden! Was ihr Spanien gestohlen habt, bleibt in Spanien.»
    Er schmückte seine Ordnungsrufe mit persönlichen Kommentaren aus, die im Laufe der Stunden immer umfangreicher wurden, immer detaillierter, immer praktischer.
    «Juden! Versucht nichts zu verbergen, wir kennen euch, ihr werdet vor der Abreise durchsucht, Kleidung und Leib, Mund und Arsch. Juden! Auf Befehl der Königin und des Königs ist es euch untersagt, irgendetwas mitzunehmen.»
    Diese Leier verstärkte, wenn nötig, die Unerbittlichkeit der Verhandlungen:
    «Hast du gehört? Wenn ich aus reiner Menschlichkeit etwas von dir kaufe, mache ich mich eines Verbrechens schuldig. Greif zu oder lass’ es bleiben. Greif zu oder lass’ es bleiben.»
     

    Wie hätte dieser Soldat
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