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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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Gehirns zu beobachten.
    Was ist ein Dominikaner?
    Als mein Bruder im Frühjahr 1506 starb, war ich am Boden zerstört. Er hinterließ mir eine Welt, die um so viel leerer war, wie sie durch ihn an Weite gewonnen hatte. Ich irrte ziellos umher. Da ich sonst niemanden hatte, mit dem ich mich unterhalten konnte, blieb ich dabei.
    Man hielt mich für verrückt.
    Da kam mir die Idee, Cristóbal habe sich, vor dem großen Sprung ins Jenseits, nach Lissabon geflüchtet. Hatten wir nicht in dieser Stadt gemeinsam seine Seereise geplant?
    Ich eilte hin. Ich hatte Samuel, dem lieben Jugendgefährten aus der Werkstatt von Meister Andrea, der lieber die Gesichter seiner Kinder zeichnete als Küstenlinien, einen Brief geschickt. Ich hatte oft an ihn zurückgedacht. Seine Menschlichkeit fehlte mir; ich war überzeugt, sie allein könne mir ein wenig Frieden schenken.
    Reisende warnten mich ab der Grenze zu Portugal: Die Pest sei über die Stadt gekommen, erzählten sie noch voller Entsetzen immer wieder, sie wüte überall, und König Manuel habe sich, umsein Leben zu retten, auf eine seiner Ländereien zurückgezogen. Trotzdem setzte ich meinen Weg fort. Verzweiflung ist eine Rüstung, an der Ängste abprallen. Unheilvolle Begegnungen oder Krankheiten lassen einen kalt. Vielleicht wünscht man sie sich sogar? Zweifellos ruft tief im Innern jemand den Tod, denn er allein kann einen erlösen.
    Die Reisenden hatten nicht gelogen: Eine Epidemie erwartete mich. Doch statt der angekündigten Pest fand ich Schlimmeres vor: die Bestialität. Kaum hatte ich das Osttor durchschritten, begegnete ich drei Männern, die einen vierten verfolgten. Sie drängten ihn an eine Mauer und schnitten ihm die Kehle durch. Dann drehten sie sich zu mir um und musterten mich lange. Wenn ich an die Szene denke, spüre ich noch immer die beiden Messerspitzen an meinem Hals. Einer dieser Banditen beschloss, dass ich «nicht so aussah, als wäre ich einer von denen». Die anderen nickten und ließen mich laufen.
    Etwas weiter stieß ich auf einen johlenden Pöbel, der von Frauen angeführt wurde. Sie schlugen mit den Fäusten gegen die verschlossenen Kirchentüren. «Macht auf!», brüllten sie, «und gebt sie uns heraus! Der Scheiterhaufen wartet auf sie!»
    Eine dieser Furien schwang eine Fackel und drohte Feuer zu legen.
    Durch Lissabon, das ich so sanft, so friedlich, so voller Musik erlebt hatte, hallte der Lärm von Schreien, Explosionen, dumpfen Schlägen, hastigem Klacken, das einen Menschen auf der Flucht verriet, und der einzige Duft kam von dem warmen und beißenden Qualm der Brandstätten.
    Ich sputete mich, denn ich hatte zwar keine Ahnung, was diese Gewalttätigkeiten bedeuteten, begann aber langsam um meinen Freund Samuel zu zittern.
    Er muss Anweisungen gegeben haben, denn kaum stand ich vor seinem Haus, öffnete sich die Tür. Ein alter Mann hieß mich willkommen. «Ich heiße Luis. Ich diene Herrn Samuel.» Während ich den kleinen begrünten Innenhof betrat, hörte ich, dass hinter mir drei Riegel vorgeschoben wurden. Mein Freund erwartete mich. Wir umarmten uns, und unverzüglich, noch bevor mir ein GlasWasser zur Erfrischung gereicht wurde, erkundigte ich mich danach, welcher Wahnsinn Lissabon befallen habe.
    «Es ist eine lange Geschichte», hob Samuel an, «und wir fürchten, wir kennen das Ende, folgt doch auf jeden Tag ein noch schlimmerer Tag als der vorausgegangene.
    Seit 1492 drängte Spanien Portugal, es ihm gleichzutun und die Juden zu verjagen. König Johann gab nicht nach. Doch sein Nachfolger, Manuel, hatte den Ehrgeiz, die beiden iberischen Königreiche unter seinem Zepter zu vereinigen. In dieser Absicht hatte er beschlossen, die Tochter des spanischen Königspaars Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon zu heiraten. Die Prinzessin, die ebenfalls Isabella hieß, weigerte sich jedoch, den Fuß in ein Land zu setzen, das sie als «verseucht» bezeichnete.
    Anstatt die Juden wegzujagen, beschloss König Manuel, sie sollten alle konvertieren, freiwillig oder unter Gewaltandrohung.
    Am 6. Oktober 1497 – wie könnte man dieses Datum je vergessen? – holten uns Soldaten aus unseren Häusern und schleppten uns zum Hafen, sozusagen zu den Booten. Wir waren zwanzigtausend am Cais de Ribeira, alle Juden von Lissabon, alle, vom Säugling bis zum Greis.»
    Samuel grinste:
    «Und wir wurden alle zusammen getauft. Vor dir sitzt ein guter Katholik.»
    «Ein echter Katholik?»
    «Sollten wir das Brauchtum unserer Vorfahren
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