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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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ihren Haaren auf die Straße zerrt, sie presst ihren Säugling weiter fest an sich, man reißt das Kind aus ihren Armen, reicht es von Hand zu Hand und bespuckt es dabei, dann packt es ein Mann, hält es an einem Bein, schwingt es über seinem Kopf und schmettert es gegen einen Brunnenrand, während die Menge dazu grölt.
    Montesinos hatte mich gefragt: Warum? Warum ist so viel Hass im Menschen? Und was ist das für ein seltsames Wesen genannt Dominikaner, das unter ein und derselben Fahne Christi imstande ist, zur Rettung der Indianer sein Leben zu riskieren und zur Ermordung aller Juden aufzurufen?
    Gott allein weiß, wie sehr ich meine Arbeit als Kartograph geliebt habe, in der sich alle Genauigkeit und alle Träume mischten. Aber ich weiß, in einem anderen Leben würde ich mich dem Sezieren widmen, mit einer Vorliebe für die Leichen von Dominikanern. Was könnte spannender sein, als im Körper eines dieser heiligen Männer die Wurzel der Gewalt zu suchen? Es muss ein winziges Organ von der Form einer Goldwaage sein, das sein Verhalten ohne Vorwarnung von größter Güte in die schlimmste Bestialität umschlagen lässt.

 
     
     
     
    An dieser Stelle muss ich auf die Hunde zu sprechen kommen.
    Zuvor wusste ich nichts über sie, und sie kümmerten mich kaum. Ich glaubte, sie seien einfach nur dazu da, Herden zu führen, Hirsche und Wildschweine zu stellen, besonders einsamen Menschen Gesellschaft zu leisten und ansonsten in der Sonne zu dösen.
    Auf Hispaniola, wo ich meinen Lebensabend verbringe, bin ich eines Besseren belehrt worden. Kurz nach der Entdeckung der Insel hatte Cristóbal mich zum Gouverneur ernannt. Ich hatte eine Stadt gegründet, ich genoss meine neue Macht.
    Eines Nachts weckte mich Hundegebell.
    Ich hielt es für einen Albtraum. Aber ich saß aufrecht in meinem Bett, hatte die Augen weit geöffnet und war also ganz und gar erwacht. Und das Bellen ging weiter.
    Es schien vom Fluss zu kommen. Es war so laut, dass es mir den Kopf marterte. Ich rief meine Wachen, ohne Erfolg. Aus Erfahrung weiß ich, dass niemand so tief schläft wie ein Soldat, der den Auftrag hat, einen zu bewachen. Ich stand vom Bett auf, kleidete mich an und marschierte in Richtung Hafen. Ich ging die Karavellen entlang. Der Lärm kam von der zuletzt eingetroffenen. Ich rief. Niemand antwortete, nur die Hunde. Ich sah sie nicht. Sie witterten mich und tobten wegen mir. Schließlich kehrte ich in die Hütte zurück, die mir damals als Palast diente.
    Am nächsten Morgen ließ ich den Kapitän rufen.
    «Wozu bringt Ihr diese Ladung Hunde?»
    «Ich führe die Befehle aus.»
    «Blödsinnige Befehle. Es kommen so selten Schiffe aus Spanien, und uns fehlt es hier an allem.»
    «Befehl ist Befehl. Mein Beruf ist, ein Schiff zu steuern.»
    «Und wem sollt Ihr die Hunde liefern?»
    «Fragt die Soldaten.»
    Ernesto Alvarez, der unsere Truppen kommandierte, ließ sich herab:
    «Jeder hat seine Rolle, Bartolomeo. Ihr regiert, ich befriede. Und da Ihr mir nicht genug Soldaten gebt, bin ich wohl gezwungen, Hilfstruppen zu beschaffen. Wollt Ihr sie begrüßen?»
    Diese «Hilfstruppen» waren an Bord der Schiffe gebracht und in Käfige gesperrt worden.
    Ein breites Lächeln auf den Lippen, trat uns ein Mann entgegen. Er sagte, er heiße «Vasco Balboa, Züchter und Dresseur, gesandt von Euren getreuen Majestäten». Er zeigte mir seine Tiere.
    «Einen Käfig für jeden, Gouverneur! Und gut im Futter. Sonst verschlingen sie sich gegenseitig.»
    Auf den ersten Blick hielt ich sie für Kälber. Sicherlich hatten meine Ohren mir in der Nacht zuvor einen Streich gespielt und, irregeleitet von irgendwelchen Ängsten, das Muhen für Gebell gehalten. Ich freute mich. Es würde uns nicht an Milch fehlen.
    Unter allen Missionen der Conquista hat Gott uns gewiss auch jene aufgegeben, Rinder hierherzubringen. Wer wird in zwanzig Jahren, in einem Jahrhundert noch daran denken, dass die Eingeborenen vor unserer Ankunft nicht nur nichts von der Existenz dieser Tiere wussten, sondern sich auch nicht vorstellen konnten, dass ein Tier so gefügig sein kann?
    Und dann öffneten die Kälber ihre Schnauzen. Ich sah ihre Zähne.
    Dieser Vasco Balboa war mächtig stolz auf sein Gewerbe. Er erzählte mir von seiner Zucht, angefangen bei seinem Vater, den Blutrünstigkeit faszinierte. Unter den Herdenhunden hatte ersorgfältig die tauglichsten Tiere ausgesucht, hatte sie untereinander vermehrt, und so war es ihm, von Generation zu Generation, gelungen, diese neue
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