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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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Schreien. Meine Zunge klebt an meinem Gaumen. Mein Herz klopft zum Zerspringen wegen meiner großen Traurigkeit…»
    Die Frau sprang auf:
    «Ach Gott, mein Gott, was hast du mir für einen Mann geschenkt? Gott, ach Gott, warum bin ich im Krieg immer allein auf der Welt?»
    Und sie wandte sich an mich:
    «Wir brauchen Brot. Danke.»
     

    Als ich zurückkehrte mit dem Brot, das ich einem Bäcker entrissen hatte, den ich mit meinem Dolch bedrohte, war die ganze Familie aufgewacht und erwartete mich wie einen Retter. Ich hätte schwören können, dass die Kinder hübsch hergerichtet, gekämmt und nahezu entstaubt worden waren.
    «Begrüßt unseren Freund», sagte die Mutter.
    Die Kinder eilten mir entgegen.
    Da entdeckte ich, etwas abseits im Sand liegend, einen kleinenJungen und ein kleines Mädchen, die sich gegenseitig umarmten. Sie hielten einander tatsächlich in den Armen, dabei schienen sie nicht älter als zehn Jahre zu sein.
    Ich fragte die Frau, ob sie diese Kinder kenne und warum sie nichts tat, um ihre obszöne Zärtlichkeit zu unterbinden.
    «Sie sind seit gestern verheiratet.»
    «In diesem Alter?»
    «Ein Rabbi hat sie getraut. Die Braut ist meine Tochter.»
    Ich konnte es mir nicht verkneifen und sagte der Frau, ihre Religion sei wirklich recht seltsam, wenn sie Ehen unter Kindern erlaube.
    «Es steht geschrieben, der Gatte soll für seine Gattin sorgen und die Gattin für ihren Gatten. Was meint Ihr, mein Herr, der Ihr alles wisst, was die Zukunft für uns bereithält? Nichts als Trennung und Einsamkeit. Wenn sie niemanden mehr haben, der sich um sie kümmern kann, und keinen Ort mehr, an den sie gehen können, dann wird diese Ehe ihre Heimat sein.»
    Der Mann hatte wieder seinen Trauergesang angestimmt:
    Meine Kehle ist heiser von meinen Schreien,/Meine Zunge klebt an meinem Gaumen,/Mein Herz klopft zum Zerspringen wegen meiner großen Traurigkeit und meines Unglücks,/Meine Traurigkeit ist groß, und so verhindert sie,/Dass der Schlaf sich über meine Augen ergießt./Wie sehr ich wehklage, so sehr/Brennt der Zorn in mir, wie ein Feuer!/Wer wird den Schmerz mit mir teilen?/Gibt es einen Tröster, so erbarme er sich meiner,/So nehme er mich an der Hand,/Ich werde mein Herz vor ihm ausschütten,/Ich werde ihm von meinem Unglück erzählen,/Und vielleicht werde ich mich beruhigen,/Wenn ich von meiner Traurigkeit spreche?
    Die Frau fasste ihn an den Schultern, sie schüttelte ihn so stark, dass er eigentlich hätte aufgeben müssen.
    «Hör auf! Kannst du nicht aufhören? Nur einmal aufhören? Nur einmal mir helfen?»
    Der Mann schüttelte den Kopf und machte weiter. Das einzige Zugeständnis: Er sang noch leiser, und die Worte kamen tonlos aus seinem Mund.
    Diese Klage, die ich in der schrecklichen Nacht vom 5. auf den 6. August hörte, habe ich nie vergessen. Lange Zeit glaubte ich, sie wäre nur eine Erfindung dieses Mannes gewesen.
    Erst als ich hier auf der Insel Hispaniola ankam, erfuhr ich, wer der wahre Verfasser der Klage war. Eines Tages, als ich sie mir beim Spazierengehen mit halblauter Stimme in Erinnerung rief, hörte mich ein Passant, schreckte auf und drehte sich nach mir um:
    «Woher kennt Ihr…»
    Verängstigt sah er sich nach allen Richtungen um.
    «… Salomon Ibn Gabriol?»
    Mein hohes Alter und mein verwirrter Blick haben ihm wohl die Angst genommen. So weit, dass er mir erzählte.
    Salomon wurde etwa um die Jahrtausendwende in der spanischen Stadt Malaga geboren. Früh verwaist, fand er Schutz beim Oberhaupt der jüdischen Gemeinde, dem Wesir des Kalifen von Saragossa. Trotz seines zarten Alters bezauberte er ihn mit seinen Gedichten. Leider wurde der Wesir ermordet, die Gemeinde dezimiert. Salomon musste Saragossa verlassen. Er war neunzehn Jahre alt. So jung schrieb er jene Klage, die ich fast fünfhundert Jahre später hören sollte.
    Nachdem er mir seine Geschichte erzählt hatte, verschwand der Passant.
    Da kam mir dieser Gedanke, der mich seither begleitet. Wie Olivenbäume Jahrhunderte überstehen und nicht sterben, überdauern auch Klagen: Ihre Wurzeln graben sich so tief in die Erde ein, in das Herz der menschlichen Gattung.

 
     
     
     
    Was ist ein Dominikaner?
    Immer häufiger kommen mir merkwürdige Vorhaben in den Sinn: zum Beispiel, den Leib von Las Casas zweizuteilen, wenn er aus Spanien zurückkehrt, die Seele, die sich darin versteckt, bloßzulegen und sie ausgiebig zu untersuchen. Ebenso wünschenswert: ihm den Kopf abzuschneiden, um die Funktionsweise seines
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