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Die Frau aus dem Meer

Die Frau aus dem Meer

Titel: Die Frau aus dem Meer
Autoren: Andrea Camilleri
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Gnazio kehrt nach Vigàta zurück
     
     
     
     
     
    Gnazio Manisco kehrte am dritten Januar achtzehnhundertfünfundneunzig nach Vigàta zurück; er war inzwischen fünfundvierzig Jahre alt, und niemand im Ort wusste mehr, wer er eigentlich war. Und auch er selbst kannte nach fünfundzwanzig Jahren, die er in Amerika zugebracht hatte, niemanden mehr.
    Bis er ungefähr zwanzig war, hatte er als Tagelöhner gearbeitet. Mit seiner Mutter und ein paar anderen Tagelöhnern war er von Landgut zu Landgut gezogen, wo hier mal Bäume ausgeputzt werden mussten, da mal Mandeln oder Oliven, Saubohnen oder Erbsen geerntet wurden. Oder sie halfen auch bei der Weinlese.
    Über seinen Vater wusste er nichts, nicht das Geringste, außer dass er Cola hieß und nach Amerika gegangen war, als er, Gnazio, noch im Bauch der Mutter war. Der Vater hatte nie wieder Nachrichten nach Hause geschickt, weder gute noch schlechte. Da hatte Gnazios Mutter die Hütte verkauft, die sie im Ort bewohnte. Diese hatte aus einem einzigen kleinen Raum bestanden, weil Tagelöhner am Ende ja doch kein Dach über dem Kopf brauchen, sie schlafen im Freien, unter dem Sternenhimmel, und sollte es einmal regnen, suchen sie Schutz unter einem Baum. Und das Geld hatte sie in ein Tüchlein gewickelt, das sie unter dem Brustlatz versteckte. Am Ende einer jeden Woche zog sie das Tüchlein hervor und steckte den Teil des Lohnes hinein, den sie erübrigen und sparen konnte.
    Die Gruppe Tagelöhner, zu der Gnazio und seine Mutter gehörten – denn Gnazio hatte schon mit fünf Jahren für ein Viertel des Lohnes angefangen zu arbeiten –, wurde von Zio Japico Prestia angeführt, der alle nur «Läuse» nannte. Als Gnazio sieben war und hörte, dass er «Laus» gerufen wurde, begehrte er auf.
    «Ihr, Zio Japico, habt mich Gnazio zu rufen, ich bin keine Laus!»
    «Fühlst du dich etwa beleidigt, wenn ich dich so rufe?»
    «Jawohl!»
    «Das solltest du nicht. Heute Abend erkläre ich’s dir.»
    Wenn Zio Japico der Sinn danach stand, erzählte er nach beendeter Arbeit und bevor es Nacht wurde, Geschichten, und alle hörten ihm zu. Daher erzählte er an diesem Abend die Geschichte von Noah und der Laus.
    «Als der Herrgott der Menschen überdrüssig wurde, die immer nur Krieg führten und sich gegenseitig zerfleischten, beschloss er, sie vom Angesicht der Erde zu tilgen und die Sintflut kommen zu lassen. Und über diese Absicht redete er mit Noah, dem einzigen aufrechten und gütigen Mann. Doch Noah wies ihn darauf hin, dass mit den Menschen auch alle Tiere sterben würden, die an der Empörung des Allmächtigen doch keinen Anteil hätten. Da sagte der Ewige zu ihm, er solle ein Holzschiff bauen, das man ‹Arche› nennt, und jeweils ein Paar von allen Tieren, Männchen und Weibchen, darin aufnehmen. So würde die Arche schwimmen, und hinterher, wenn die Sintflut vorüber sei, hätten die Tiere ihre Jungen bekommen können. Noah vermochte es, die Erlaubnis zu erhalten, auch seine Frau und seine drei Söhne in die Arche zu führen, und fragte den Herrgott dann, wie er nur alle Tiere auf dem Erdenrund benachrichtigen könne. Der Allmächtige antwortete ihm, dass er sich darum kümmern wolle. Um es kurz zu machen: Als alle Tiere hineingegangen waren, fing es an zu regnen. Nach drei Tagen hörte Noah eines Nachts, als alle schliefen, ein Stimmchen ganz dicht an seinem Ohr.
    ‹Patriarch Noah! Patriarch Noah!›
    ‹Wer ist da?›
    ‹Zwei Läuse sind wir, Mann und Weib.›
    Läuse? Aber wer waren die? Noch nie hatte Noah sie auch nur nennen hören.
    ‹Wo seid ihr denn, ich sehe euch nicht?›
    ‹Auf deinem Kopf, inmitten deiner Haare.›
    ‹Und was macht ihr da?›
    ‹Patriarch, der König der Welt hat vergessen, auch uns über die Sintflut zu benachrichtigen. Aber wir haben es trotzdem erfahren und sind an dir hochgeklettert.›
    ‹Doch wovon lebt ihr Läuse denn?›
    ‹Wir leben von dem Dreck, der auf dem Kopf des Menschen ist.›
    ‹Da werdet ihr hungers sterben! Ich wasche mir die Haare nämlich jeden Tag!›
    ‹O nein, Patriarch! Du bist die Verpflichtung eingegangen, alle Tiere zu erretten! Wir haben das Recht, uns zu ernähren, wie alle anderen Tiere auch! Und daher wirst du dich von nun an für die Zeit der Sintflut nicht mehr waschen!›
    Und wisst ihr, liebe Leute, warum der Ewige vergessen hatte, die Läuse zu benachrichtigen? Weil die Läuse wie die Tagelöhner sind, bei denen sogar Gott vergisst, dass es sie gibt.»
    Als Gnazio
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