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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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benötigten, um die Monarchen über die Wahrheit aufzuklären. Doch das Kind war in den Brunnen gefallen.
    Jetzt können Sie mein heutiges Frohlocken verstehen. Gibt es etwas Schöneres, als im Triumph an den Ort seiner größten Schmach zurückzukehren, als geliebter Onkel des Vizekönigs, begleitet von der hochoffiziellen und fortwährend erneuerten Gunst des Königs?
    Angesichts der Bekundungen ewiger Freundschaft durch meine ehemaligen Feinde empfinde ich größte Befriedigung und kann nicht genug davon bekommen.
    Und jenen, die so schamlos sind, mir aus dem Weg zu gehen, trete ich Auge in Auge gegenüber und zwinge sie zum Gehorsam.
    Ich würde gerne verzeihen. Doch ich trage zu viel Groll mit mir herum und bin zweifellos zu engstirnig, um diese Großherzigkeit aufzubringen.
    Nur drei Öffnungen verbinden mich mit der Außenwelt.
    Die erste ist lediglich ein Guckloch hoch über meinem Bett. Ich habe es immer nur geschlossen gesehen.
    Die zweite ist die Tür. Benutzt wird sie einzig von dem Diener, der mir meine Mahlzeiten bringt, meinem Beichtvater und manchmal von meinem Neffen, dem Vizekönig.
    Die dritte ist meine Freundin, aber ich kann sie nicht erreichen, ohne Gefahr zu laufen, mir die Knochen zu brechen. Es handelt sich um ein Fenster, das mit zwei in das dicke Mauerwerk gehauenen Sitzbänken ausgestattet ist. Um auf diesen unvergleichlichen Beobachtungsposten zu gelangen, muss ich auf eine Truhe klettern und mich von dort auf einen eisglatten Marmorsims hieven. Ich weiß, diese Übungen sind meinem Alter nicht mehr angemessen, eines Tages werde ich mir den Hals oder beide Hüftknochen brechen. Ich weiß, dass ich mich ein für alle Mal von dieser Krankheit, der Neugier, verabschieden muss, die anscheinend meine schlimmste Veranlagung ist. Doch es gibt eine Kraft in mir, die immer über Vorsicht und Vernunft obsiegt.
    Die Belohnung, die mich dort oben erwartet, wiegt alle Anstrengungen und Gefahren auf, denen ich mich aussetze. Von diesem Aussichtspunkt erstreckt sich mein Blick über den ganzen Hafen.
    In Genua erteilte den Beinen niemand Befehle, und dennoch fand sich alle Welt im Hafen ein. Es stimmt, dass dort alle Straßen abschüssig sind und alle Hänge zum Wasser hinabführen.
    «Wozu ist die übrige Stadt gut?», hatte Cristóbal eines Tages gefragt.
    Wir waren noch keine zehn Jahre alt. Und unser Schluss war gewesen, dass die übrige Stadt zu gar nichts gut war.
    «Meinst du, es gibt Städte ohne Hafen?»
    «Ich glaube, in diesen Städten kann kein Mensch überleben.»
    «Das glaube ich auch.»
    Santo Domingo ist nicht Genua und auch nicht Lissabon. Und sei es nur aus einem Grund: In Lissabon und Genua gelang es einem nicht, alle an den Kais liegenden Schiffe zu zählen. In Santo Domingo genügen dazu die Finger von vier Händen. Ich habe nie mehr als zwanzig Karavellen auf einmal in der Mündung des Río Ozama gesehen.
    Santo Domingo ist nur ein kleiner, noch ganz junger Hafen. Der Hauptkai ist lediglich ein Ponton. Bei den Speichern bin ich beim besten Willen nur auf die Zahl fünf gekommen, und leider muss gesagt werden, dass beim fünften das Dach fehlt.
    Als mich Las Casas einmal auf meinem Sitz antraf, fragte er mich:
    «Was gefällt Euch so am Hafen?»
    «Man kann dort das Schauspiel des Lebens sehen wie nirgendwo sonst.»
    Er schaute mich lange an. Dann nickte er.
    «Wie ich mir dachte. Häfen tun Euch nicht gut.»
    Wegen meines verdutzten Blicks geruhte er hinzuzufügen:
    «Ihr habt mir gesagt, Ihr wolltet Euch auf den Tod vorbereiten. Ich stelle aber fest, dass Häfen Euch ans Leben binden. Ihr müsst also mit den Häfen brechen.»
    Ich habe sie nicht gezählt. Seit meiner Geburt bin ich bestimmt Tausenden von Menschen begegnet, darunter Kosmographen und Mathematikern: Aber niemand denkt logischer als ein Dominikaner.
    Betreten kletterte ich von meinem Ausguck hinunter.
    Und ich habe mir geschworen, zwischen meinen Besuchen dort mehr Zeit vergehen zu lassen.
    Von jetzt an warte ich, bis es dunkel ist, um meine Beobachtungen fortzusetzen. Ich betrachte den Hafen, während er schläft. Die Gezeiten steigen und fallen unter den reglosen Karavellen, und beim geringsten Mondschimmer reflektiert das Wasser. Ohne es zu hören, ahne ich das leise Rauschen, das meine Blase munter werden lässt. Von jetzt an nehme ich einen Nachttopfmit, damit ich meinen hohen Fensterplatz nicht verlassen muss.
    Die Hunde im Zwinger, die schrecklichen Kampfhunde, hören nicht zu bellen auf. Sie bekommen gerade
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