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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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Rückzug und Anpirschen, versehen mit erschrockenen Kommentaren, dauerte bis zum letzten Stich.
    Der Vizekönig hob den Kopf:
    «Inwieweit hast du mit diesen Abscheulichkeiten zu schaffen?»
    «Ich war Gouverneur. Ein schlechter Gouverneur. Cristóbal hat sich in meinen Fähigkeiten geirrt: Niemand gehorchte meinen Anweisungen, nicht einmal meine spanischen Truppen, von denen sich die Hälfte gegen mich erhob. Ich bin bei diesen Folterungen dabei gewesen. Ich habe sie zugelassen. Vielleicht habe ich sie manchmal sogar angeregt? Ich habe über das Entsetzen der Indianer gelacht. Vielleicht hat mir das Schauspiel ihrer Leiden sogar Vergnügen gemacht? Ich bin dafür verantwortlich.»
    Diego zuckte mit den Schultern und ließ mich stehen.
    Ich blieb allein zurück mit den zwölf Stichen.
    Im Vordergrund schwingt ein Spanier eine Axt. Ein Indianer wartet, sein Unterarm liegt auf einem Hackklotz. Eine bereits verstümmelte Frau schwenkt ihre Stümpfe. Eine andere wird von einem Soldaten festgehalten, während man ihr mit einem spitzen Messer ein Auge aussticht. Hunde verfolgen Fliehende. Wen sie einholen, den fressen sie. Im Hintergrund werden Indianer über den Rand einer Felsklippe gestoßen und stürzen hinunter.
(Stich I)
    Ein edler Konquistador mit Halskrause und Pluderhose schwenkt stolz über seinem Kopf in jeder Hand die Hälfte eines Kindes, das man der Länge nach geteilt hat. Eine Frau, sicher die Mutter, verfolgt die Szene mit totem Blick: Sie hängt an einem Baum. Im Hintergrund jagen Windhunde hinter Indianern her und schnappen nach ihnen.
(Stich II)
    Im Vordergrund zur Rechten brät ein Säugling auf einem Rost. Ein Soldat schürt das Feuer. Zur Linken liegen Gliedmaßen auf einer Fleischbank, wie beim Metzger: Beine, Keulen, Arme… Indianer, die schwere Lasten tragen, Anker oder Kanonen, werden ausgepeitscht, damit sie weitergehen. In der Ferne erkennt man eine Gruppe Indianer, die zu einem Boot geschleppt werden. Ein Schiff wartet auf seine Ladung.
(Stich X)
    In der Mitte des Blatts spielt ein Konquistador im Prunkgewand mit seinem Kommandostock den Dirigenten. Doch die Musik, die er dirigiert, ist eine Marter. Ein Indianer liegt auf dem Rücken. Ein Feuer brennt unter seinen Fußsohlen, ein Halseisen schnürt ihm die Kehle zu. Ein Soldat gießt ihm kochendes Öl über die Brust und den Bauch.
(Stich XI)

 
     
     
     
    Als ich auf die dringende Bitte Königin Isabellas und König Ferdinands hin im April 1494 in See stach, als mein Bruder bei meiner Ankunft auf der Insel Hispaniola seine große Zufriedenheit darüber ausdrückte, mich nach unserer langen Trennung wiederzusehen, und als er mir sein Vertrauen bewies, indem er mich zum
Adelantado
von Indien und zum Gouverneur ernannte, sagte ich, mein erster Wunsch sei es, die Gebiete kennenzulernen, für die ich von da an verantwortlich war.
    Man wunderte sich darüber. Man erklärte mir, dass für zahllose dringende Probleme Lösungen gefunden werden mussten und dass eine solche Reise mit großen Risiken für meine Sicherheit verbunden sei, abgesehen davon, dass sie die Lösungen weiter hinauszögern und die Amtsgewalt zersetzen würde, die man mir eben erst übertragen hatte.
    Ich hörte nicht auf diese Argumente und begab mich, nur von einer kleinen Eskorte beschützt, auf eine Erkundungsreise.
    Ich war damals noch keine vierzig Jahre alt, und mein Körper war jung und kräftig. Er litt noch unter keinem der Gebrechen, die ihn heute beschweren.
    Gott hat mich für meine Entscheidung reich belohnt. Vielleicht war Er besonders stolz auf Seine Schöpfung an diesem Ort der Welt? Während des zweiwöchigen Marsches kam ich aus dem Staunen nicht mehr heraus.
    Alles, was ich anderswo bei Pflanzen an Farben, Formen, Größen gesehen hatte, wurde hier tausendfach übertroffen. Man bewegtesich in heiterer Stimmung durch eine verschwenderische Fülle, in der die Grenzen zwischen den Reichen nie ganz klar waren. Was wie eine Blume aussah, war, wenn man näher kam, ein Frosch. Was über den Boden glitt oder von den Bäumen hing, war mal eine Liane, mal eine Schlange. Die Tiere trugen auch sonst zu diesem Fest bei, ob sie von Baum zu Baum sprangen wie die Affen, durch den Hochwald trappelten wie die Wildschweine, Zagutis und Schlitzrüssler oder auf den Sandbänken dösten wie die Krokodile.
    Noah muss sein vor der Sintflut begonnenes Werk in diesem Indien vollendet haben. Seine Arche übertraf die übrigen Wunder der Bibel.
    Und wenn das Auge müde geworden war
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