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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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halten sie Ausschau. Vielleicht bringt ihnen das nächste Schiff endlich ihren Märchenprinzen?
    Ich kenne nun zwei Sorten von Frauen, die am Meer warten: Solche, die fürchten, Witwe zu werden, und neuerdings solche, die Trübsal blasen und auf eine Heirat warten.
    Während sie Ausschau halten, plaudern sie. Ich mag ihr Geplauder, die bescheidene Dimension ihrer Träume.
    Ich denke dabei an die drei Karavellen meines Bruders: die
Santa Maria,
die
Pinta,
die
Niña.
Die
Santa Maria
hieß eigentlich
Marie-Galante. Pinta
heißt so viel wie angemalt, geschminkt. Und
Niña
bedeutet Mädchen. Die Karavellen, die die Neue Welt entdeckt haben, waren Freudenmädchen. Jedesmal, wenn ich mich daran erinnere, überkommt mich große Heiterkeit.
    Und dann legt sich der Wind. Die Vögel fliegen nicht mehr. Um diese Stunde wird die Hitze unerträglich. Das reglose Meer strahlt noch stärker als die Sonne. Die jungen Damen geben auf. Sie kehren heim, doch zuvor sorgen sie sich um meine Gesundheit: Ihr verschmachtet ja, Bartolomeo, oder noch schlimmer, Ihr schmelzt weg, so wie Ihr schwitzt! Das ist mir der liebste Augenblick. Die Soldaten haben sich zurückgezogen, sie schlafen im Schatten der Palmen oder spielen Karten. Ich höre sie kaum reden. Sie sprechen über Frauen, darüber, was sie nachts mit Frauen tun, und darüber, was die Frauen mit ihnen tun, sie sprechen auch über mich, der ich mich ans Leben klammere. «Glaubst du, er macht es noch lange?» Sie haben recht. Ich fühle wohl, dass meine Kräfte schwinden. Jemand sollte Las Casas benachrichtigen. Ich werde mein Versprechen nicht halten: Ich werde meinen Bericht nicht zu Ende erzählen können, bis er zurückkommt, werde ich tot sein. Egal! Er braucht mich nicht für seine
Geschichte Westindiens.
Er weiß genau, es war nicht vorgesehen, dass ich erzähle.
    Die langen Pirogen der Fischer kehren langsam von hoher See zurück. Und ich, ich spreche mit meinem Bruder.
    Ich weiß, dass ich wenig Zeit habe, ich beschränke mich auf einige Schlüsselfragen.
    Warum?
    Warum entdecken, wenn man die tötet, die man entdeckt?
    Außerdem, Cristóbal, wer entdeckt eigentlich wen bei einer Entdeckung? Wer die anstrengende Reise unternimmt, ist ein Entdecker, aber der Entdeckte entdeckt auch denjenigen, der zu ihm vordringt.
    Sicher fühlt er sich belästigt, wenn ich immer wieder auf die andere Frage zurückkomme, die mich quält: Was ist Gold, Cristóbal? Das, worauf alles hinausläuft? Was alles aufwiegt? Alles wird dem Gold geopfert: Länder, Pflanzen, Tiere, Männer, Frauen. Und wenn man das Gold dann hat, tauscht man es gegen Länder, Pflanzen, Tiere, Männer und vor allem Frauen ein. Wo ist der Gewinn dabei? Cristóbal, Cristóbal, wenn unser Auge ins Gold eindringen und dort tief genug sehen könnte, glaubst du nicht auch, dass es auf das Rätsel von der Dummheit der Männer und ihrer Grausamkeit stieße?
    Ich lasse mich von seinem Schweigen nicht abhalten. Ich fahre fort.
    Cristóbal, Cristóbal, verzeih’, wenn ich dich belästige. Dort, wo du bist, hast du wahrscheinlich viele andere Dinge im Kopf. Wie viele Indianer gab es, Cristóbal, als du hier gelandet bist? Und wie viele sind es heute? Sieh dich um, hör zu: Wir haben so viele ermordet, dass die Insel Hispaniola in meinem Rücken fast ebenso menschenleer ist wie das Meer.
    Cristóbal, Cristóbal, bist du dir wirklich sicher, Indien entdeckt zu haben? Kommt es überhaupt darauf an, Cristóbal?
    Cristóbal, Cristóbal, ist es nicht das Gesetz der Entdeckungsfahrten, dass das, was man entdeckt, einen vom Weg abbringt?
    Cristóbal, Cristóbal, meinst du nicht, dass man aus dem Gefängnis der Wahrheit fliehen muss, damit die Wirklichkeit Raum gewinnt?
    Wenn du nicht alle belogen hättest und zuerst dich selbst, hättest du es dann gewagt, so weit nach Westen zu fahren?
    Offenbar missfallen ihm meine Fragen, denn er antwortet nie.
    Ich weiß, ich falle aus der Rolle: Dass ich erzähle, war nicht vorgesehen. Erst recht nicht, dass ich Fragen stelle.

Dank
     
    Für eine so weite und gleichermaßen unsichere Fahrt benötigt man eine außergewöhnliche Mannschaft.
    Ehre, wem Ehre gebührt: Mein Dank gilt Cristina Castel-Branco. Jahr für Jahr hat mir diese unvergleichliche Freundin Tür um Tür Lissabon erschlossen.
    Ich danke meiner Tochter Judith. Noch zu Zeiten ihres Geschichtsstudiums erzählte sie mir von der Gewürzroute und setzte mich auf die Fährte der
Ymago mundi.
    Dank an Jean-Baptiste Cuisinier. Mühsam gelingt es
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