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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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    Die Kapitäne haben mich nie vergessen. Sie wissen, dass sie bei mir immer herzlich aufgenommen werden. Kaum von Bord gegangen, eilen sie zum Alcazar, wo der Vizekönig im ersten Stockwerk sie ungeduldig erwartet. Doch wenn sie den offiziellen Bericht von ihrem Auftrag abgeliefert haben, versäumen sie nicht, zu mir herunterzukommen.
    Die Seemänner heißen Ponce de León, Nicuesa, Ojeda, Esquivel, Velásquez… So viele kühne Entdecker, so viele Erben von Cristóbal. Wer wird sich an sie erinnern, wenn ich nicht mehr bin? Ich weiß, die Legendenbildung ist in vollem Gange; sie wird die Wahrheit zermahlen. Man wird eine offizielle Geschichte ausarbeiten, die nur ein oder zwei Namen behalten wird.
    Bei diesen Besuchen fühle ich mich wieder wie zwanzig. Wie in der guten alten Zeit in Lissabon lausche ich den Berichten der Seefahrer und übertrage ihre Entdeckungen auf eine kleine Karte nach meiner Art. Mögen meine Finger, die verkrümmt sind wie Reben, die Feder auch nicht mehr so fest halten wie früher, meine Linien erzählen vom fortschreitenden Wachstum der Welt. Die Inseln Cozumel und Margarita, die Perlenküste, Castilla de Oro, Honduras, Yucatán…
    Als Cristóbal starb, war er überzeugt davon, sein Indien-Unternehmen zum Erfolg geführt zu haben: Für ihn gehörten alle Gebiete, auf die er stieß, schlicht und einfach zu Indien.
    Zweifel kamen uns erst, als er tot war. Und je weiter die Entdeckungen fortschreiten, umso größer wird die Ungewissheit.
    Nichts hier erinnert an Cipango und noch weniger an das Reich des Großkhans: weder die Landschaften noch die Bauwerke, auch nicht die Gesichter der Einheimischen. Wäre es möglich, dass Cristóbal einen bislang vollkommen unbekannten Kontinent entdeckt hat? Ich erinnere mich an das Hohngelächter der Mathematiker-Kommission: «Indien, verehrter Genuese, befindet sich viel weiter im Westen, als Ihr meint.»
    Dann hätte sich mein Bruder also geirrt.
    Oder er hätte uns belogen.
    Wie dem auch sei, hätte er dann nicht verdient, noch viel mehr gerühmt zu werden? Was ist ehrenvoller: eine noch unbekannte Route zum Bekannten zu finden oder Unbekanntes zu entdecken?
     

    Daneben empfange ich andere Besucher, die sich ebenfalls der Erforschung verschrieben haben, aber keine Seefahrer sind.
    Als hätte Bruder Montesinos den Wagemut und das Bedürfnis nach Wahrheit geweckt, stellte sich kurz nach seiner Predigt ein Mann bei mir vor, der seinen Namen nicht nennen wollte. Er war groß gewachsen, hatte einen mageren Körper und ein Gesicht, das nur noch Haut und Knochen war. Als er mir seinen Beruf nannte – Kupferstecher –, dachte ich unwillkürlich, dass die Säure, die er täglich benötigte, ihm die Wangen zerfressen hatte, so hohl waren sie. Er erklärte mir, er habe die Niederlande verlassen, weil er lebhafte Farben brauche. Die Grau- und Schwarztöne seiner Werke, die den Farben seiner heimischen Landschaft entsprächen, würden ihm zu sehr aufs Gemüt drücken.
    Ich fragte ihn, ob unsere Insel Hispaniola seinen Erwartungen entsprochen habe.
    «Leider», lautete seine Antwort.
    Und er holte die erste seiner Druckplatten aus einem Tornister.
    Unglücklicherweise sind meine Augen von Alterserscheinungen verschont geblieben. Ich sehe zu gut. Ich kann es mir nicht darin bequem machen, nichts mehr zu sehen.
    Ich wollte mich empören.
    «Wer hat Euch dieses Phantasiebild eingegeben?»
    «Die Wirklichkeit. Wollt Ihr mehr davon sehen?»
    Vor Wut hätte ich ihn fast davongejagt. Ich konnte mich gerade noch zurückhalten.
    Am nächsten Tag kam er wieder. Ich kaufte ihm die ganze Serie ab, zwölf Stiche. Seitdem zwinge ich mich jeden Abend zur Buße, sie zu betrachten, während die Frage Montesinos’ in meinem Kopf wie eine Fledermaus hin- und herfliegt; es ist immer dieselbe: Warum?
    Schließlich zeigte ich diese Stiche dem Vizekönig. Vorsichtig wie immer und leicht angewidert, verzog er das Gesicht.
    «Worum handelt es sich?»
    «Um ein Theater, das mir zur letzten Beichte dienen könnte.»
    «Was für ein Theater?»
    «Das Theater unserer Grausamkeiten.»
    Nach langem Zögern streckte er die Hand aus, nahm die Stiche, warf einen Blick auf den ersten, den zweiten, sprang auf, hielt sich die Blätter direkt vors Gesicht, um besser zu sehen, und murmelte: «Wie grauenhaft!» Fast hätte er die Blätter zu Boden geschleudert, so heftig stieß er sie im großen Bogen von sich. Dann hob er sie noch einmal vors Gesicht. Dieses Hin und Her von
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