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Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Cristóbal: oder Die Reise nach Indien

Titel: Cristóbal: oder Die Reise nach Indien
Autoren: Erik Orsenna
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von diesem Dschungel und seinem Übermaß an Vielfältigkeit, kam eine Lichtung, die dem Blick unverzüglich einen Ruhepunkt bot, oder ein kleines, sorgfältig bebautes Feld, ein Bild des Friedens und der wunderbaren Harmonie zwischen Natur und Mensch.
    Wer hätte diese Insel Hispaniola nicht lieb gewonnen, traf man hier doch auf das Leben selbst, vielfältig wie sonst nirgendwo, freier und sorgloser!
    Ich kann so viel erklären, wie ich will, ständig fragt man mich: Warum habt Ihr Euch entschlossen, auf diese Insel zurückzukehren?
    Ich sage es zum letzten Mal, es ist Liebe. Ich gehöre zweifellos zu den Menschen, die sich leichter in Orte verlieben als in andere Menschen. Vom ersten Tag an war mir Hispaniola ans Herz gewachsen.
    Wir näherten uns dem hohen Gebirge, von dem man mir erzählt und das ich zum Ziel unserer Expedition bestimmt hatte. Während des Anstiegs begriff ich allmählich die tödliche Tyrannei des Goldes. Die Wolken lösten sich auf. Einer nach dem anderen erschienen die Berge, und mit der Zeit entrollte sich vor uns die ganze Kordillere bis zum Horizont wie ein riesiger Waran.
    Keinen von meinen Begleitern schlug dieses grandiose Schauspiel in Bann, nicht einmal die beiden angeblichen Naturgelehrten.Sie hatten nur Augen für den Fluss, der sich tief unter uns durch das Tal schlängelte. Sie erzählten sich, sehr gereizt, dass man in diesen schlammigen Gewässern Goldklumpen gefunden habe, dass man viel mehr hätte finden können, wenn diese Indianer nicht eine solche Trägheit im Blut hätten, und dass einen Monat zuvor ein Glückspilz von einem
Encomendero
einen faustgroßen Klumpen Gold herausgefischt habe.
    Ich musste meinen Begleitern drohen, damit sie mit mir bis zum Gipfel weitergingen. Das Gold zog sie mit Leib und Seele an wie der mächtigste aller Magneten. Ich sah, wie das Gold diese Menschen plötzlich in schnaubende Tiere verwandelte. Nun würde es meine Aufgabe sein, diese wilden Tiere zu bändigen, dachte ich und fröstelte. Vor Angst und vor Abscheu. Die Zukunft gab mir nur allzu recht!
    Ich muss fortwährend an das Gold denken.
    Man hat dir, Cristóbal, so häufig deine Gier vorgeworfen.
    Ich, der ich dich besser kenne als sonst jemand, ich weiß, dass dich im Gegensatz zu vielen anderen, zu fast allen Konquistadoren die Anhäufung von Gold nicht interessierte. Dein einziger Stolz war die Entdeckung. Und das Gold, das Auffinden von Gold, verschaffte dir die Sicherheit, dass deine Reiseträume weiterhin Könige und Königinnen verzauberten, sonst nichts.
    Vielleicht aber bedeutete das Gold für dich noch mehr? Ein Zeichen, eine Botschaft, ähnlich deinen geliebten Prophezeiungen: Indem Er dich in Länder mit Gold führte, zeigte dir Gott, dass Er deinem Unternehmen wohlgesinnt war.

 
     
     
     
    Jeden Morgen, auch an Sonntagen, tragen mich zwei Soldaten bis zur Mündung des Flusses. Sie sind mehr als zuvorkommend zu mir. Sie lassen sich alles Mögliche einfallen, um mich aufzumuntern. Sie schlagen mir andere Strecken, richtige Spaziergänge vor: Sollen wir nicht zur Abwechslung einmal in den Wald gehen? Gut festgebunden auf dem Pferd, könnten wir Euch bis zum Xaragua-See führen. Ihr liebt doch Vögel, dort wimmelt es davon wie nirgendwo sonst. Fregattvögel, Ibisse, Flamingos. Und entlang der Küste zeigt das Meer seine drei Farben. In der Ferne ist es dunkelblau, fast schwarz, dann quasi grün, und in der Nähe des Ufers wird es weiß.
    Ich sage nicht Ja und nicht Nein und bedanke mich. Sie wissen, sie müssen sich sputen. Ich möchte ankommen, wenn die Sonne aufgeht.
    Jedes Mal scherzen sie, es ist immer derselbe Witz:
    «Herr Gouverneur, Ihr werdet immer schwerer, bitte esst doch nicht mehr so viel.»
    Wir lachen zusammen. Die Kakadus äffen uns nach. Die wackeren Soldaten sind die Ersten, die wissen, dass ich mich immer leichter mache. Ich esse immer weniger, ich werfe Ballast ab. Das Alter ist eine Lossagung. Man geht stückweise. Deshalb habe ich diesen Ort gewählt, er grenzt an zwei Strömungen, die Strömung des Flusses und die des Meeres. Ich möchte nichts zurücklassen. Mir gefällt die Vorstellung, dass das Wasser alles davonträgt, was sich Tag für Tag von mir löst.
    Oft treffe ich kurz vor Mittag einige Damen.
    Aus Spanien wurden dreißig Jungfrauen hierhergebracht, um Familien zu gründen. Sechsundzwanzig haben einen Mann gefunden. Die vier Verschmähten schlendern weiter über die Calle las Damas. Mit zunehmender Ungeduld drängt es sie zum Ozean. Dort
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