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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo
Autoren: Elizabeth Corley
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verschwand in dem einzigen Büschel Haare, das auf seiner rechten Schläfe zu sehen war.
    Es war eine Frankensteinmonster-Naht, und der Anblick ließ sie vor Schock und unterdrückter Hysterie so heftig kichern, dass sie sich den Mund mit beiden Händen zuhalten musste. Dann verebbten die Geräusche zu einem leisen Wimmern, während sie auf den Leichnam blickte, der ihr Vater gewesen war. Es war so wenig von ihm zu sehen, dass sie sich fragte, warum der Sarg überhaupt offen gelassen worden war, aber sie war froh darüber.
    Sie hob eine Hand und streichelte ihm über den bandagierten Kopf.
    »Ach Dad«, flüsterte sie, »so ein verdammtes Pech.«
    Dann küsste sie ihn sanft, wie zuvor ihre Mutter, wandte sich zum Gehen und kämpfte darum, die Fassung wiederzugewinnen. Es bestand kein Grund, länger hier zu bleiben. Was könnte sie noch tun? Als sie nach dem Ledervorhang griff, spürte sie ein Kribbeln auf der Haut zwischen den Schulterblättern. Eine verrückte Sekunde lang war sie sicher, dass ihre Eltern sich beide aufgesetzt hatten und sie ansahen, wünschten, dass sie sich noch einmal umdrehte, um ihr auf Wiedersehen zu sagen. Das Gefühl war so stark, dass sie einen Blick nach hinten warf. Die einzigen Augen waren die von Christus, der am Kreuz litt, voller Erbarmen und allein. Sie drehte sich wieder zur Tür, öffnete sie und ging hinaus.
    Draußen im Sonnenschein des Parkplatzes saß ihr Bruder auf einer Bank, das Gesicht grau, die Augen gerötet.
    »Das hat aber lange gedauert.« Er klang kleinlaut, verlegen, weil er es nicht fertig gebracht hatte, seine toten Eltern zu sehen.
    »Es waren jede Menge Formulare zu unterschreiben, aber jetzt ist alles erledigt.«
    »Ich konnte einfach nicht. Tut mir Leid.«
    »Ist schon gut, ehrlich.«
    »Waren sie, ich meine, die Särge …?«
    Auch er wusste um die gut gemeinte Warnung der italienischen Polizei.
    »Die Särge waren offen. Sie sahen beide sehr friedlich aus, als würden sie schlafen. Es war kein schrecklicher Anblick.«
    Er drückte sie ganz fest, und sie spürte, wie ihre Kehle sich zuschnürte. Sie löste sich von ihm, konnte ihn nicht ansehen, aus Angst vor der Last der Tränen, die sie in sich spürte. Sie wusste, wenn sie ihnen freien Lauf ließe, würden sie so bald nicht wieder aufhören, als sei ein Damm gebrochen.
    »Komm, lass uns fahren. Ich könnte einen Drink vertragen.«
    Er ließ seinen Arm locker um ihre Schultern liegen und führte sie zum Wagen. Die Sonne brannte auf ihrem dunklen Kostüm, als sie langsam von der Leichenhalle weggingen, ihre Schatten hart auf dem grauen Kies.
    Bis heute war der Tod ihrer Eltern nicht real gewesen. Sie hatte die Formalitäten erledigt, die Flugtickets besorgt, die Sachen ihrer Eltern einpacken und zu sich ins Hotel schicken lassen. Selbst das Ausfüllen der Versicherungsformulare für die Überführung der Leichname nach Hause war eine willkommene Ablenkung gewesen. Jetzt musste sie sich noch um die Beisetzung kümmern und um die Grabsteine. Dann …
    Ihr Bruder schloss fest die Autotür, und sie schnallte sich an. Der Klang der zuknallenden Tür hatte eine Endgültigkeit, die in ihren Gedanken nachhallte. Das Leben würde nie wieder so sein wie zuvor. Ihre Eltern waren tot. Sie war eine Waise. Alles, was zwischen ihnen ungeklärt gewesen war, würde es für immer bleiben. Offene Möglichkeiten hatten sich in dem Sekundenbruchteil geschlossen, in dem ein Reifen platzte und ihr Wagen im hohen Bogen in die malerische Schlucht stürzte, an deren Anblick sie sich Augenblicke zuvor bestimmt noch erfreut hatten. An die Stelle einer möglichen Aussöhnung mit ihren Eltern war Reue getreten, Schuldgefühle würden die Leere füllen müssen, wo Erklärungen und Verzeihen irgendwann vielleicht das Verhältnis zwischen ihnen hätten flicken können. Alles, was sie einander noch hätten bedeuten können, war mit ihren letzten Atemzügen erloschen.
    Das Gefühl vertaner Chancen war fast unerträglich. Für einen so selbstbewussten und beherrschten Menschen wie sie war die Erkenntnis der Machtlosigkeit erdrückend. Sie fühlte sich beschädigt, isoliert, außer Kontrolle. Das Leben würde nie wieder so sein wie zuvor.

TEIL EINS
    Ein Mann schämt sich nur selten dafür, dass er eine Frau nicht so recht lieben kann, wenn er eine gewisse Größe in ihr sieht: Die Natur hat Größe für die Männer vorgesehen.
    George Eliot
     
    Man kann mit dieser neuen Erfahrung sowohl im Weine als auch in der Frau eine Versuchung sehen. Man
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