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Crescendo

Crescendo

Titel: Crescendo
Autoren: Elizabeth Corley
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Störung.
    »Entschuldigen Sie. Ich bin Louise Nightingale. Ich komme aus England. Ich möchte zu meinen Eltern.«
    Als die Frau den Namen hörte, wurde ihr Blick weich, und sie stand auf.
    »Scusi.«
    Sie ließ Nightingale allein im Büro stehen, wo sie über einen Metallschreibtisch in den klaren Himmel dahinter blickte. Genau deshalb waren ihre Eltern hergekommen, auf der Suche nach Sonnenschein im Winter. Sie wandte sich ab, wieder mit einem flauen Gefühl.
    Ein Mann, der einen tadellos geschneiderten schwarzen Anzug, rote Krawatte und Sonnenbrille trug, betrat den Raum.
    »Miss Nightingale, wir hatten Sie gestern erwartet. Wenn Sie mir bitte folgen würden.«
    Der Mann ging zu der Kapellentür und schwang dabei einen Schlüssel an einer dünnen Silberkette wie einen Rosenkranz.
    »Sie sind hier drin. Es tut mir so Leid. Möchten Sie lieber allein sein?«
    »Ja, bitte.«
    Sie stieß die Tür auf, sie war schwer und schien sich der Störung zu widersetzen. Ein dicker Ledervorhang hing wie eine zweite Barriere dahinter. Innen war die Luft noch kälter, das Licht dämmrig. Es roch nach Blumen und Weihrauch, und erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sie in einem katholischen Land war. Ein Kruzifix mit einem leidenden Christus aus bemaltem Gips auf Holz hing an der leuchtend roten hinteren Wand. Davor standen zwei offene Särge. Als sie darauf zuging, überwältigte sie der Duft einer Vase voller Lilien. In der kühlen Dämmerung wirkten sie wie vollkommene Elfenbeinblüten, die sich an die sterile, klimatisierte Luft klammerten.
    Das leise Brummen der Klimaanlage war das einzige Geräusch in der Stille. Hinter ihr fiel die Tür mit einem Klicken ins Schloss, und einen Moment lang musste sie den Impuls niederkämpfen, zurückzulaufen und gegen die Tür zu schlagen, um ihrem eingebildeten Begräbnis zu entfliehen. Stattdessen ging sie weiter, ganz die beherrschte und gefasste Engländerin, und legte die Hand auf den Eichenholzsarg ihrer Mutter.
    Jemand hatte ihr bestes Sommerkleid angezogen. Ein weißes Tuch bedeckte ihren Leichnam bis zur Brust. Die Hände darunter waren gefaltet, und sie fühlte sich um einen letzten Blick auf die langen Finger und die schlanken rosa Nägel, die immer so sauber gewesen waren, betrogen.
    Ihr fiel die Warnung wieder ein, die ihr von der britischen Polizei im Namen der italienischen Kollegen ausgerichtet worden war: »Beide haben sehr schwere Verletzungen erlitten. Ihr Vater starb an der Unfallstelle, Ihre Mutter zwei Stunden später.«
    Sie fragte sich, was für Verstümmelungen das Leichentuch verbarg, und schluckte schwer, um sich für den Anblick des Gesichtes ihrer Mutter zu wappnen.
    Es war schön. Wie eh und je. Wundersamerweise war das Gesicht ihrer Mutter unversehrt geblieben. Noch unglaublicher war, dass der Bestatter der Versuchung widerstanden hatte, sie mit Farben zu schminken, die sie im Leben nie getragen hätte.
    Das hellbraune Haar, ohne eine Spur von Grau, Tönen unnötig, fiel ihr weich und glatt um das Gesicht. Die kleinen Sorgenfalten und die leichten Runzeln auf ihrer Stirn, die sich immer gezeigt hatten, wenn sie angestrengt nachdachte, waren verschwunden, sodass sie jünger aussah, als Nightingale sie in Erinnerung hatte. Die grausame Ironie, sie im Tod so jugendlich zu sehen, raubte ihr den Atem.
    Nur die vollen Lippen zeigten Spuren des Todes. Sie waren fest geschlossen und ganz blass, fast blau. Ein wenig Lippenstift hätte nicht geschadet, dachte sie, aber vielleicht wollte der Bestatter ihre natürliche Schönheit auch im Grab unangetastet lassen.
    Sie beugte sich herab und küsste ihre Mutter auf die Stirn, auf beide Augen und zuletzt, ganz sanft, auf den Mund, wie ein unbewusstes Kreuzzeichen. Dann richtete sie sich auf und ging zu ihrem Vater.
    Das Tuch ging ihm bis zum Kinn, sodass nicht zu erkennen war, was er anhatte. Seine Augen waren geschlossen, aber sie kannte die Farbe, das Glockenblumenblau eines klaren Sommerhimmels. Es stand nicht zu befürchten, dass sie je vergessen würde, wie sie aussahen, denn um sie wieder zu sehen, brauchte sie nur in den Spiegel zu schauen. Sein ganzer Kopf war mit blütenweißen Verbänden umwickelt, aus denen nur Augen, Nase und Mund hervorlugten. Trotzdem konnten sie nicht alle Wunden verbergen. Eine führte genau von der Mitte der Unterlippe in einer leuchtenden Diagonale in den Verband über dem Kinn. Eine weitere, sorgfältig genäht, begann außen an der linken Augenbraue, zog sich quer über die Stirn und
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