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Cosmopolis

Cosmopolis

Titel: Cosmopolis
Autoren: Don DeLillo
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eine Mikrowelle und einen Herzmonitor. Er starrte die schwenkbare SpyCam an, und sie starrte zurück. Früher hatte er hier in einem von Hand fernbedienten Raum gesessen, aber das war jetzt vorbei. Ein nahezu berührungsfreies Umfeld. Er konnte die meisten Systeme sprachgesteuert starten oder einen Bildschirm mit einer Handbewegung leer fegen.
    Ein Taxi quetschte sich längs neben sie, der Fahrer hupte. Das löste hundert andere Hupen aus.
    Shiner rutschte auf dem Klappsitz neben der Bordbar herum und schaute nach hinten. Er trank frischen Orangensaft durch einen Plastikstrohhalm, der in stumpfem Winkel aus dem Glas ragte. Er schien zwischen den Schlucken irgendetwas in den Halm hineinzupfeifen.
    Eric sagte: »Was?«
    Shiner hob den Kopf.
    »Hast du manchmal das Gefühl, du weißt nicht, was los ist?«, fragte er.
    Shiner sprach in seinen Strohhalm hinein, als wär’s ein Bordübertragungsgerät.
    »Dieser ganze Optimismus, Booms und Höhenflüge. Die Dinge geschehen irgendwie peng. Dies und das gleichzeitig. Ich strecke die Hand aus, und was fühle ich? Ich weiß, dass du alle zehn Minuten tausend Dinge analysierst. Muster, Verhältnisse, Indices, ganze Informationsdiagramme. Ich liebe Information. Sie ist unsere Süße und unser Licht. Sie ist ein weltumfickendes Wunder. Und wir sind von Bedeutung für die Welt. Menschen essen und schlafen im Schatten unseres Tuns. Aber zur gleichen Zeit, was?«
    Es gab eine lange Pause. Endlich schaute er Shiner an. Was hatte er zu dem Mann gesagt? Er hatte keine harte, scharfe Bemerkung an ihn gerichtet. Er hatte eigentlich überhaupt nichts gesagt.
    Sie saßen im Crescendo der Hupen. Der Lärm war so, dass er ihn nicht wegwünschte. Es war der Ton eines Grundschmerzes, der archaische Klang einer Ureinwohnerklage. Er dachte an rituell brüllende Männer in zerlumpten Gruppen, soziale Einheiten des Tötens und Fressens. Rotes Fleisch. Das war der Instinkt, das Trauerbedürfnis. Im Kühlschrank waren heute Getränke. Nichts Festes für die Mikrowelle.
    Shiner sagte: »Irgendein besonderer Grund, dass wir im Auto sind statt im Büro?«
    »Woher weißt du, dass wir im Auto sind statt im Büro?«
    »Wenn ich diese Frage beantworte.«
    »Auf welcher Grundlage?«
    »Dann werde ich etwas sagen, das halbwegs schlau ist, aber weitgehend oberflächlich und wahrscheinlich auf irgendeiner Ebene unzutreffend, das weiß ich. Und dann wirst du mir dein Beileid dafür aussprechen, dass ich je geboren wurde.«
    »Wir sind im Auto, weil ich mir die Haare schneiden lassen muss.«
    »Lass doch den Friseur ins Büro kommen. Lass dir die Haare dort schneiden. Oder lass den Friseur ins Auto kommen. Lass dir die Haare schneiden und geh ins Büro.«
    »Haareschneiden, das heißt, was. Assoziationen. Kalender an der Wand. Überall Spiegel. Es gibt keinen Friseurstuhl hier. Nichts Schwenkbares, außer der SpyCam.«
    Er änderte seine Sitzposition im Sessel und beobachtete, wie die Überwachungskamera sich justierte. Sein Bild war früher fast immer zu sehen gewesen, weltweit videoverbreitet vom Auto, vom Flugzeug, vom Büro und von ausgewählten Stellen in seiner Wohnung aus. Aber Sicherheitsfragen mussten geregelt werden, und jetzt operierte die Kamera in einem geschlossenen Kreislauf. Eine Krankenschwester und zwei bewaffnete Wachen schoben durchgehend Dienst vor drei Bildschirmen in einem fensterlosen Raum im Büro. Das Wort Büro war inzwischen überholt. Es hatte null Gehalt.
    Er spähte aus dem von außen undurchsichtigen Fenster zu seiner Linken. Er brauchte einen Moment, bis er begriff, dass er die Person auf dem Rücksitz des Taxis neben ihnen kannte. Sie war seit zweiundzwanzig Tagen seine Frau, Elise Shifrin, eine Dichterin, die durch Blutsverwandtschaft Ansprüche auf das sagenhafte Bankvermögen der Shifrins in Europa und der ganzen Welt hatte.
    Er kodierte eine Botschaft an Torval vorn. Dann trat er auf die Straße und tippte an das Taxifenster. Sie lächelte überrascht zu ihm auf. Sie war Mitte zwanzig, mit kupferstichfeinen Zügen und großen, kunstlosen Augen. Ihre Schönheit hatte etwas Entrücktes. Das war faszinierend, aber vielleicht auch nicht. Ihr Kopf saß leicht nach vorn gerichtet auf einem schlanken, langen Hals. Sie hatte ein unerwartetes Lachen, etwas misstrauisch und erfahren, und er mochte es, wie sie einen Finger an die Lippen legte, wenn sie nachdenklich sein wollte. Ihre Gedichte waren scheiße.
    Sie glitt zur Seite, und er stieg neben ihr ein. Das Hupen verebbte und
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