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Cosmopolis

Cosmopolis

Titel: Cosmopolis
Autoren: Don DeLillo
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auf seine Kinnlinie gelegt hatte, ein oder zwei Sekunden, nachdem er es auf dem Bildschirm gesehen hatte.
    »Wo ist Shiner?«
    »Auf dem Weg zum Flughafen.«
    »Warum haben wir immer noch Flughäfen? Warum heißen sie Flughäfen?«
    »Ich weiß, dass ich diese Fragen nicht beantworten kann, ohne Ihren Respekt zu verlieren«, sagte Chin.
    »Shiner hat gesagt, unser Netzwerk wäre sicher.«
    »Dann ist es das auch.«
    »Sicher vor Eindringlingen.«
    »Er ist der Beste, den es gibt, wenn es darum geht, Löcher zu finden.«
    »Warum sehe ich dann Dinge, die noch nicht passiert sind?« Der Boden der Limousine war aus Carrara-Marmor, aus den Steinbrüchen, wo Michelangelo vor einem halben Jahrtausend gestanden und seine Fingerspitze auf den funkelnd weißen Stein gelegt hatte.
    Er betrachtete Chin, der sich auf seinem Klappsitz in wilden Gedankengängen verlor.
    »Wie alt sind Sie?«
    »Zweiundzwanzig. Was? Zweiundzwanzig.«
    »Sie sehen jünger aus. Ich war immer jünger als alle um mich herum. Eines Tages änderte sich das.«
    »Ich fühle mich nicht jünger. Ich fühle mich total im Nichts verortet. Ich glaube, ich bin so weit, das Geschäft hinter mir zu lassen, eigentlich.«
    »Stecken Sie sich einen Kaugummi in den Mund und versuchen Sie, ihn nicht zu kauen. Für jemanden in Ihrem Alter, mit Ihrer Begabung gibt es nur ein Ziel auf der Welt, das sich beruflich und intellektuell lohnt. Was ist das, Michael? Die Interaktion zwischen Technologie und Kapital. Ihre Untrennbarkeit.«
    »Die Highschool war die letzte wirkliche Herausforderung«, sagte Chin.
    Auf der Third Avenue ging nichts mehr. Die ständige Dienstanweisung des Fahrers lautete, beim Rückstau auf die Kreuzung vorzupreschen, nicht schlapp zurückzubleiben.
    »Ich habe ein Gedicht gelesen, in dem eine Ratte zur Währungseinheit wird.«
    »Ja. Das wäre interessant«, sagte Chin.
    »Ja. Das hätte Auswirkung auf die Weltwirtschaft.«
    »Schon der Name. Besser als Dong oder Kwacha.«
    »Der Name sagt alles.«
    »Ja. Ratte«, sagte Chin.
    »Ja. Die Ratte schloss heute niedriger gegenüber dem Euro.«
    »Ja. Es gibt zunehmende Befürchtungen, dass die russische Ratte abgewertet wird.«
    »Weiße Ratten. Denken Sie mal darüber nach.«
    »Ja. Schwangere Ratten.«
    »Ja. Schwangere russische Ratten werden auf den Markt geworfen.«
    »Großbritannien stellt auf die Ratte um«, sagte Chin.
    »Ja. Schließt sich dem Trend zur Universalwährung an.«
    »Ja. USA etablieren Rattenwährung.«
    »Ja. Jeder US – Dollar gegen Ratte rückkaufbar.«
    »Tote Ratten.«
    »Ja. Hamsterkäufe von toten Ratten als globale Gesundheitsbedrohung bezeichnet.«
    »Wie alt sind Sie?«, sagte Chin. »Jetzt, wo Sie nicht mehr jünger sind als alle anderen.«
    Er schaute an Chin vorbei zu den gegenläufig rasenden Zahlenströmen. Er begriff, wie viel ihm das bedeutete, das Fließen und Springen von Daten auf einem Bildschirm. Er studierte die figurativen Diagramme, die organische Muster ins Spiel brachten, Vogelflügel und gespaltene Muschel. Es war oberflächlich zu behaupten, Zahlen und Tabellen wären die kalte Verdichtung unbotmäßiger menschlicher Energien, und jegliche Sehnsucht, jeglicher Mitternachtsschweiß würden auf nachvollziehbare Einheiten im Finanzgeschäft reduziert. Dabei hatten Daten selbst eine Seele und leuchteten, waren ein dynamischer Aspekt des Lebensprozesses. Darin bestand die Eloquenz von Alphabeten und numerischen Systemen, inzwischen lückenlos in elektronischer Form erfasst, in der Null-Einsheit der Welt, dem digitalen Imperativ, der jeden Atemzug der auf dem Planeten lebenden Milliarden bestimmte. Das war der Atem der Biosphäre. Unsere Körper und Ozeane waren da, kennbar und ganz.
    Das Auto fuhr wieder an. Er sah den ersten Frisiersalon auf seiner Rechten, an der Nordwestecke, Filles et Garçons. Er spürte, wie Torval vorn auf seinen Befehl wartete, das Auto anzuhalten.
    Er erhaschte einen Blick auf die Markise des zweiten Geschäfts, nicht weit vor ihnen, und sprach einen kodierten Satz in einen Signalprozessor in der Trennwand, dem Schiebefenster zwischen Fahrer und hinterem Wagenteil. Dies löste auf einem der Monitore am Armaturenbrett einen Befehl aus.
    Das Auto kam vor dem Wohngebäude zwischen den beiden Salons zum Halten. Er stieg aus und betrat den überdachten Durchgang, ohne darauf zu warten, dass der Doorman zu seinem Telefon schlurfte. Er betrat den Innenhof, zählte sich im Geist auf, was darin war, die schattenliebenden Pfaffenhütchen und
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