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Cosmopolis

Cosmopolis

Titel: Cosmopolis
Autoren: Don DeLillo
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es noch mal sehen, wenn er wollte, jederzeit, dank Scan Retrieval, einer Technologie, die einem inzwischen schon bedrückend träge vorkam, oder er könnte eine Zeitlupenaufnahme von der gertenschlanken Frau und ihrem Handmikro wiederherstellen, wie sie in den Schrecken hineingesogen wurden, und er könnte stundenlang mit seiner Lust dasitzen, sie in dem Blutwirbel aus Messer und irgendwelchen Gliedern und aufgeschlitzten Halsschlagadern durchzuficken, an Ort und Stelle, unter den Stakkatoschreien des um sich schlagenden Mörders und den blubbernden, aufgeblähten Seufzern des sterbenden Arthur Rapp.
    Ein Touristenbus blockierte die Avenue. Es war ein Doppeldecker, aus dessen Unterbauch Rauch quoll, Reihen sorgenvoller Köpfe schauten aus der oberen Etage, bewegungslose Schweden und Chinesen, die Gürteltaschen voll Währung. Michael Chin saß immer noch auf dem Klappsitz, den Blick nach hinten gerichtet. Er hatte sich den Bericht von der Ermordung angehört, sich aber nicht zu den Bildschirmen umgedreht.
    Jetzt betrachtete ihn Eric und fragte sich, ob die Zurückhaltung des jungen Manns eine Form moralischer Härte war oder eine so tiefe Apathie, dass nicht mal die Musen von Sex und Tod sie durchdringen konnten.
    »Während Sie weg waren«, sagte Chin.
    »Ja. Sagen Sie’s mir.«
    »Kam ein Bericht, dass die Konsumenten in Japan weniger ausgäben.« Er sprach mit einer Nachrichtensprecherstimme. »Dass Zweifel über die wirtschaftliche Stärke des Landes angebracht seien.«
    »Sehen Sie. Was. Hab ich doch gesagt.«
    »Der Yen soll nachgeben. Der Yen wird ein bisschen fallen.«
    »Na bitte. Sehen Sie. Musste doch so kommen. Die Situation muss sich verändern. Der Yen kann nicht noch höher steigen.«
    Torval kam zu Fuß an dieses Ende des Autos. Eric ließ die Fensterscheibe herunter. Fensterscheiben mussten immer noch heruntergelassen werden.
    Torval sagte: »Auf ein Wort.«
    »Ja.«
    »Der Komplex empfiehlt erhöhte Sicherheit.«
    »Darüber sind Sie nicht erfreut.«
    »Erst die Bedrohung des Präsidenten.«
    »Egal, was kommt, Sie trauen sich zu, damit umzugehen.«
    »Jetzt dieser Angriff auf den Geschäftsführer.«
    »Dann nehmen Sie die Empfehlung an.«
    Fenster hoch. Wie fand er zusätzliche Sicherheit? Er fand sie erfrischend. Arthur Rapps Tod war erfrischend. Der bevorstehende Einbruch des Yen war belebend.
    Er ließ den Blick über die Datenschirme schweifen. Sie waren in abgestufter Entfernung vom Rücksitz aufgestellt, flache Plasma-Monitore in verschiedenen Größen, einige zu einem Cluster gruppiert, ein paar andere projizierten einzeln aus seitlichen Einbauschränken. Die gesamte Anordnung war eine Videoskulptur, ansprechend und luftig, mit proteischem Potenzial, und jedes Gerät war so gebaut, dass es herausschwingen, zuklappen oder unabhängig von den anderen arbeiten konnte.
    Er mochte es, wenn der Ton leise oder ganz abgestellt war.
    Jetzt kletterten sie aus dem Touristenbus. Er schien in dem dunklen Rauch zu versinken, der ringsum emporschäumte. Ein in Noppenfolie gekleideter Penner versuchte einzusteigen. In der Ferne Sirenen, Feuerwehrwagen im Stau, das Geheul hing in der Luft, ohne Dopplereffekt, und Autohupen tröteten in der Nähe, noch eine Belastung dieses Tages. Er spürte, wie sein Hochgefühl sich verstärkte. Er öffnete das Schiebedach und streckte den Kopf in die wirbelnde Szene. Die Banktürme ragten auf der anderen Seite der Avenue auf. Trotz ihrer Höhe waren es verborgene Bauwerke, schwer zu sehen, so gewöhnlich und monoton, hoch, pur, abstrakt, mit Standard-Rücksprüngen, häuserblocklang und austauschbar, und er musste sich konzentrieren, um sie zu sehen.
    Sie wirkten leer von hier aus. Der Gedanke gefiel ihm. Sie waren das letzte Hohe, so waren sie gemacht, als etwas Leeres, entworfen, um die Zukunft zu beschleunigen. Sie waren das Ende der Außenwelt. Sie waren eigentlich nicht da. Sie waren in der Zukunft, in einer Zeit jenseits von Geografie und greifbarem Geld und den Menschen, die es horten und zählen.
    Er setzte sich wieder und sah Chin an, der an dem Häutchen neben seinem Daumennagel herumknabberte. Er sah ihm beim Kauen zu. Nein, das war keine von Michaels zarten Träumereien. Er nagte, knirschte mit den Zähnen auf dem Niednagel, dann auf dem Nagel selber, dem Nagelbett, dem blassen Viertelmondbogen, der Lunula, und die Szene hatte etwas Abstoßendes und Atavistisches, der ungeborene Chin, zusammengerollt in einem Membransack, ein Furcht einflößender kleiner
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