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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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ich die Leiter zusammen und brachte die Wäsche in den Keller. Nachdem ich die Möbel abgestaubt und die Gläser gespült hatte, ging ich nach oben. Ich öffnete die Badezimmertür und blieb mit offenem Mund im Türrahmen stehen.
    Lizzie saß mit angezogenen Knien auf einem Hocker, den Kopf ans Waschbecken gelehnt. In der Hand hielt sie ein Efeublatt.
    Ich stieß den Atem aus, den ich unwillkürlich angehalten hatte. Die Wand über der Badewanne war über und über mit Efeu bedeckt. Die Ranken hatten sich ihren Weg durch eine undichte Stelle des Holzfensters gesucht und sich im ganzen Raum ausgebreitet. Das Badezimmer sah aus wie das Portal zu einem Märchenschloss.
    Lizzie lachte plötzlich laut auf. „Erinnerst du dich an den verwunschenen Pfad im Wäldchen? Du wolltest mir immer einreden, dass dort Baumgeister leben.“
    „Hm … Ich kann mich auch noch gut daran erinnern, wie du gerannt bist, als einer von ihnen dich an den Haaren gezogen hatte.“
    „Ich bin gerannt, weil ich meine Verabredung vergessen hatte und nicht zu spät kommen wollte.“ Lizzie knuffte mich in die Seite. „Wie hieß der Junge noch? Martin? Matthias?“
    „Keine Ahnung, ich hab nach dem fünfzigsten aufgehört mir die Namen zu merken.“
    „So viele waren das doch gar nicht.“ Das Efeublatt, das sie in der Hand gehalten hatte, war ganz zerdrückt, sie sah es einen Moment lang an und warf es in die Badewanne. „Wollen wir das Bad so lassen?“, fragte sie. „Es wäre doch schade um das urige Ambiente. So ein Badezimmer hat sicher niemand sonst.“
    „Ja, lassen wir es so. Ich denke, Rosie hätte es gefallen.“

    Es war lange dunkel, als wir das Haus soweit hergerichtet hatten, dass man darin schlafen konnte, ohne an einer Staublunge zu erkranken.
    Ich hatte uns Brote geschmiert und eine Flasche Wein geöffnet, als Lizzie nach unten kam. Sie trocknete sich die Haare und warf das Handtuch auf die Eckbank, setzte sich aufs Sofa, schenkte uns Wein in die Gläser, die ich auf dem kleinen Tisch bereit gestellt hatte, und zog die Beine an. „Und jetzt eine Geschichte“, sagte sie, „dann wäre ich glatt wieder zwölf Jahre alt.“
    Ich nahm mein Glas in die Hand und kuschelte mich in die andere Ecke des Sofas. „Wärst du denn gerne noch mal zwölf?“
    „Oh Gott, nein!“ Sie nahm einen kräftigen Schluck und schüttelte den Kopf. „Du etwa?“
    „Ich weiß nicht. Vielleicht könnte ich einiges anders machen. Besser. Menschen wiedersehen, die …“ Ich versuchte den Kloß hinunterzuschlucken, der plötzlich in meinem Hals steckte.
    „Man kann die Vergangenheit nicht zurückholen“, sagte sie und hob die Hand, als wollte sie mich berühren, dann zog sie sie zurück und schob sie unter ihren Oberschenkel, wie sie das als Kind so oft getan hatte. Und wie sie da saß, mit gesenktem Kopf und zerzausten Haaren, sah ich wieder das Kind in ihr, die Schwester, die ich so geliebt und später so vermisst hatte.
    „Was hältst du von einer Wanderung in unsere Vergangenheit?“, fragte ich einer spontanen Eingebung folgend. „Wir stehen morgen ganz früh auf, packen Verpflegung in den Rucksack und gehen mal nachsehen, ob die Baumgeister noch immer hier sind.“
    „Du spinnst doch!“ Lizzie tippte sich an die Stirn, grinste aber dabei. „Bist du nicht langsam zu alt für so einen Schwachsinn?“
    „Hey, ich bin gerade mal sieben Minuten älter als du, also pass auf, was du sagst.“ Mit gespielt beleidigter Miene ging ich zum Plattenspieler und legte die Schallplatte des Konzerts in San Quentin auf. Und als Johnny Cash den letzten Vers von The Old Account Was Settled Long Ago sang, hatten wir die Flasche geleert und ich Lizzie davon überzeugt, dass eine Wanderung genau das Richtige für den nächsten Tag war.

    „Du bist verrückt.“ Lizzie rieb sich die Augen und kramte in ihrer Handtasche, einen Moment später zog sie ein Handy hervor. „Weißt du eigentlich, wie spät es ist?“
    Mit hochgezogenen Augenbrauen sah ich auf meine Armbanduhr. „Es ist viertel vor sieben, also genau die richtige Zeit, um aufzubrechen. Du weißt doch, Baumgeister sind scheu und mögen kein grelles Tageslicht. Und das“, ich nahm ihr das Handy ab und legte es auf den Küchentisch, „brauchst du heute nicht. Also los!“ Ich zog sie an der Hand hinter mir her nach draußen.
    Die Luft war kühl und klar, aber es würde ein warmer Tag werden. Die Sonne ging über den Spitzen der Bäume auf und ich hielt mein Gesicht in die ersten wärmenden
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