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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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keinen Ehebruch, keine Gewalt und auch …« Der Wolpertinger hält einen Augenblick inne, schaut von mir zu Darius, schüttelt mit verzogenem Mund den Kopf, bevor er fortfährt: »… keine Homosexualität.«
          »Ist das nicht eine etwas pessimistische …«
          »Papperlapapp«, unterbricht der Wolpertinger mich energisch. »Die Liebe ist die größte aller Mächte. Was ist daran pessimistisch? Sie ist stärker als ich, stärker als das Aloisiushaus.« Er reicht mir seinen Teller, »Ich habe noch Hunger. Worauf wartest du?«, wartet, bis ich zum Buffet gegangen bin, und richtet sich an Darius. »Du liebst ihn. Ich kann dich nicht mehr halten. Damals hatte ich noch eine Chance, weil seine Angst größer war.«
          Das Buffet hat sich gewandelt. Vorhin stand die Creme Brulé als einziges Dessert am Rand des Tischs. Jetzt locken verschiedene Früchte, Eissorten, Gebäck, Götterspeise. Teller mit Portionsabschnitten laden zu kleinen Geschmacksproben von allen Köstlichkeiten ein. Ich fülle nicht nur dem Wolpertinger, sondern auch Darius und mir reichlich auf.
          »Was heißt das?«, höre ich Darius.
          »Du bist frei.«
          Die Teller stelle ich auf den Tisch, setze mich wieder, starre auf Darius. Nichts ändert sich an ihm? Was habe ich erwartet? Jahre, die in sichtbaren Falten im Zeitraffer aufgeholt werden, bis er als toter Greis auf den Teller mit den Desserts vor sich fällt?
          Auch Darius isst nicht. Freiheit ist nichts, das man mal eben bei der Mahlzeit serviert bekommt. Sie sprengt nur selten Ketten, reißt nur selten sichtbare Mauern ein. Und selbst, wenn man aus einem Gefängnis tritt, muss man sich erst an sie gewöhnen, je mehr man sie ersehnt hat, um so länger.
          Der Wolpertinger ist fort. Oder nicht mehr zu sehen. Wer weiß das schon so genau? Drei unangerührte Dessertteller, ein schweigendes Paar. Es knackt im Gebälk des Hauses, mir ist, als hörte ich aus der Küche eine Geschirrspülmaschine.
          »Das Haus lebt«, sagt Darius. »Es ist nicht tot, wie auf deinem Bild.«
          Ich nicke. »Es nährt sich in den Ländern, in denen Homosexualität noch immer bestraft wird. Es stärkt sich an den Ängsten, die Teenager immer noch haben, sich zu outen, an den Vorurteilen, die auch hier immer noch herrschen, sogar unter uns. Es lebt von unserem Wahn, nie alt werden zu dürfen, immer jung bleiben zu müssen. Du hast recht, Darius. Es ist keine Ruine. Ich muss das Bild korrigieren.« Ich stehe auf, ziehe meinen Mantel an, reiche Darius seinen und helfe ihm hinein. Der alte Mann dem jungen.
          Wir gehen schnellen Schrittes zum Auto, schauen von dort noch einmal über die Schonung, dorthin, wo wir die Lichtung vermuten. Keine Rauchsäule.
          »Schade«, sagt Darius.
          »Was ist schade?«, frage ich. »Dass wir nichts dabei hatten, um etwas von dem Essen einzupacken?«
          Mein Freund schüttelt lachend den Kopf. »Irgendwie hatte ich einen Showdown erwartet. So in der Art Dorian Grays. Du malst mich alt und verrunzelt, bannst mein nicht gelebtes Leben auf die Leinwand und steckst damit das Haus in Brand. Ich löse mich in Rauch auf und in der Asche findet die Polizei eine Leiche. Mindestens zweihundert Jahre alt.«
          Die Sonne ist in den Westen gezogen, strahlt wieder über die Weite des Naturparks in Darius’ Gesicht.
          

Über den Autor
Florian Tietgen
    Das Glas halb voll betrachtet, steckt in meinem Lebenslauf viel Erfahrung. Erfahrung, die ein Leben auf feste Beine stellt.

    Geboren wurde ich im November 1959 zehn Minuten nach meinem Zwillingsbruder. 1977 erlangte ich die mittlere Reife, an die ich eine Ausbildung zum Erzieher anschloss. Schon im zarten Alter von 13 auf den Brettern, die die Welt bedeuten, durfte ich früh Erfahrungen als Schauspieler, Inspizient, Regieassistent und Autor machen. Das alles trainiert die Empathie, geht es doch im Schauspiel auch darum, sich in Charaktere, in Mensch und Stücke hineinzufühlen und diese Gefühle für andere greifbar und plausibel zu machen.

    Für den Broterwerb sammelte ich Erfahrungen als Briefzusteller, Lebensmittel- und Getränkehändler, Bäcker, Lastkraftfahrer, Supporter und Tester für Software. Dabei lernte ich die Arbeitswelt in allen Farben und Facetten und Schwierigkeiten kennen. Nebenbei absolvierte ich Fortbildungen für Gesprächsführung und Kommunikation.

    Außerberuflich stellte die Kunst in vielfältiger Form
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