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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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erzählte von Fritz, von dem Korb, den ich ihm gegeben hatte, von der Reaktion meines Chefs, von den Bergmosers, jedoch nichts von Darius. Von der Wanderung konnte ich nicht erzählen. Sie verschwand immer mehr in die Klarheit eins fiebrigen Traums. Meine Mutter hörte zu, sogar noch, als ich längst zu Ende erzählt hatte. Ich konnte sie nicht ansehen, nicht, während ich erzählte, nicht, während ich wartete. Ich trank meinen lauwarmen Kaffee, machte mir eine Scheibe Brot, aß, meine Mutter hörte zu. Ich betrachtete das Tapetenmuster, barock, in Violett-, Blau- und Brauntönen, wie salinoförmig mit eckigen Blüten, die keiner natürlichen Pflanze zuzuordnen waren, sie hörte zu. Ich zählte die Blätter des Gummibaums – es waren sechsundfünfzig – und der Tradeskantie Dreimasterblume, meine Mutter hörte zu.
          Sie hörte zu, bis ich bis einhunderteinunddreißig gezählt hatte.
          »Wos willst jetzt machn?«
          Schulterzucken. ›Wenn ich das wüsste, wäre ich nicht hier.‹
          »Bist du denn oana von dena, oda hobn’s di nua verleignet?«
          Schulterzucken. »Beides.« Ich versuchte, sie anzuschauen, schaffte es nur den kurzen Augenblick lang, in dem sie ihr Gesicht zu einem Fragezeichen formte. »Ich bin einer von denen, aber sie haben mich verleugnet.«
          Ab diesem Moment hörte sie nicht mehr zu. Sie stand auf, ging zur Garderobe und legte mir den Dufflecoat über die Lehne des Stuhls, auf dem sie gerade gesessen hatte. »I hob scho imma gewusst, mit dia stimmt wos ned. A Mutta spürt so etwos. Ja, wenns du oana von dena bist, wos willst du dann hia? Dass de Nachbarn si des Maul zerreißn? Mein Sohn a Weibischa.« Mit ihrem Blick versuchte sie, mich von der Bank zu stoßen. Die Geste war unmissverständlich.
          »Mama …« Ich hätte doch spüren müssen, wie zwecklos es wäre. Wenn sie es schon immer gewusst hatte, warum konnte sie nicht ertragen, wenn ich es aussprach? Als bräuchte es erst Gewissheit, damit Nachbarn sich das Maul zerrissen.
          »Treibe Spoat, geh schwimma, tu’ wos dagegn.« Sie stand hinter dem Stuhl mit meinem Mantel, hatte die Arme wie ein Mann in die Hüften gestemmt und sich vorgebeugt. »Mein Sohn bist jedenfois ned mehr.« Es war absurd, beinahe komisch, wenn ich nicht so geschockt gewesen wäre. Meine Mutter sagte sich von mir los, weil die Nachbarn tratschen könnten. Eine Frau, die ihrem Mann verlassen hat und mit einem Amerikaner verheiratet war. Als hätte sich nicht schon der ganze kleine Ort genug das Maul über sie zerrissen.
          »Du kannst«, stammelte ich, »mich doch nicht einfach rausschmeißen?« Egal war die Anzahl der Gummibaumblätter, die der Tradeskantie, egal war das Muster der Tapete. Unter dem Druck eines Blickes stand ich widerstrebend auf, wenn auch offenbar nicht schnell genug.
          »Wieso ned? Du bist erwachsn. Da musst du schon sehn, wia du oieine klarkommst. Wenn du ne Frau oda na Enkl fia mi host, bist du herzli willkomma.«
          Wortlos drängte ich sie zur Seite, um meinen Mantel anzuziehen, wortlos nahm ich mir meinen Rucksack und ging zur Tür.
          »Host du dia doch selbst so ausgesucht«, rief sie mir hinterher. Ich hatte doch gar nichts mehr gesagt.
          Ich stolperte also wieder auf wunden Füßen durch die Frostwelt, schleppte mein Leben auf dem Rücken, alles, was ich besaß. Ohne Richtung, ohne Ziel.
          Wo war Darius? Bei ihm hatte ich es warm, er hat mich verstanden – ohne ein Wort. Er hat mich getröstet, in den Arm genommen, ohne nach Moral zu fragen. Bei ihm war ich nie auf die Idee gekommen, etwas Unanständiges zu tun.
          Wo war ich? In einem kleinen Ort mit nicht einmal fünftausend Einwohnern. Einem Ort, in dem jeder jeden kannte, jeder jeden grüßte und jeder alles über jeden wusste. Von der Nazivergangenheit meines Vaters, die niemanden zu stören schien, bis zur Treulosigkeit meiner Mutter. Es gab keine Geheimnisse.
          Mein Vater. Ihn könnte ich besuchen. Wollte ich das? Wo wollte ich hin? Was würde ich von ihm wollen? Bis es mich irgendwohin verschlug, wo ich bleiben konnte und wollte?
          Wo war Darius?
          Ich hatte den Ort zum Bleiben doch schon gefunden. Eine Wohnung in München. Gemeinsamkeit jenseits der Realität.
          Grüßen, Kopfnicken, Grüßen, Kopfnicken. So viele bekannte Gesichter, freundlich als wäre ich ein normaler Mensch, der nicht gerade seine Stellung,
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