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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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seine Wohnung und seinen Status als Sohn verloren hatte. Wissend so tun als wüsste man nichts. So funktionierte es hier. So blieben die Wahrheiten Geheimnisse und die Geheimnisse Wahrheiten. So hielt man die Achtung voreinander aufrecht, vor der Hure, vor dem Nazi, vor dem Linken, dem Einzigen, der bei jeder Wahl sein Kreuz an die falsche Stelle machte. Jeder wusste es, niemand sprach darüber. Würde das bei mir tatsächlich anders sein? Oder würde man drüber hinwegsehen, solange ich meine Arbeit verrichtete?
          Wo war Darius?
          »Grüß Gott, Frau Eigner«, »Pfürti Frau Mosleitner«, weitergehen.
          Bushaltestelle. Auf dem Fahrplan nach Optionen schauen. Auf den nächsten Bus hätte ich fünf Minuten warten müssen, auf den folgenden zwei Stunden. Was käme danach?
          Wut vermissen. Meine Mutter hatte mich vor die Tür gesetzt. Rausgeschmissen, weil ich war, wie ich war. Ich hatte nichts verbrochen, nichts ausgefressen, mich einfach nur offenbart. Und sie hatte mich hinausbefördert. Wo blieb die Wut, wo der Zorn über die Ungerechtigkeit? Nichts als leere Verzweiflung in mir. Ohne Hoffnung beschloss ich, den Bus in zwei Stunden zu nehmen. Schlechter konnte es mir nicht mehr gehen, also konnte ich auch meinen Vater aufsuchen, mir die letze Abfuhr einfangen. Ich überlegte nicht, dass er um diese Zeit in der Schule sein müsste.
          »Grüß Gott Herr Gruber«, »Pfürti Frau Madler«, »ja, es geht mir gut«, »danke, wie geht’s Ihnen?« Weitergehen.
          Klingeln, warten, Geräusche und Vaters Stimme hören. »Moment, ich komme gleich.« Der Nazilehrer sprach hochdeutsch. Poltern, Schritte. »Siegfried, wie nett. Komm rein.« Auch mein Vater war im Morgenmantel. Er hatte einen dicken Schal um den Hals und eine gerötete Nase. »Woher weißt du, dass ich krank bin?«
          »Ich wusste es nicht.« Ich trat ein, legte meinen Rucksack in den Flur, hängte meinen Dufflecoat auf einen Bügel an der Garderobe. Bei meinem Vater war alles akkurat. Kein Staub, kein unnützer Gegenstand. Auf den geschliffenen Dielen im Flur lag ein rotblau gemusterter Läufer, neben der Garderobe stand eine handbemalte Milchkanne als Schirmständer. Die hatte ich ihm vor einigen Jahren mal zum Geburtstag geschenkt.
          »Sie steht noch hier«, sagte er lächelnd und zeigte darauf. Er bat mich in die Stube, »ich habe mich böse erkältet«, fragte, ob ich etwas trinken wollte.
          »Nein danke.«
          »Schön, dass du mich besuchst. Hast du ein paar Tage frei?«
          In der Stube herrschte genauso penible Ordnung wie im Flur. Auch hier waren die Dielen geschliffen, ein blauer Teppich lag unter dem Nierentisch, darum eine rot gepolsterte Sitzgruppe. Auf dem Nierentisch stand oder lag nichts. Keine Zeitung, kein Buch lag herum.
          »Willst du dich nicht lieber wieder hinlegen?«
          »Nein.«
          »Oder dir deine Bettdecke holen?«
          Mein Vater setzte sich auf einen Sessel, vollführte mit der Hand eine einladende Geste, es ihm gleichzutun.
          »Danke. Wenn mein Sohn schon mal da ist, kann ich mich für die Zeit auch zusammenreißen.«
          Das Bücherregal an der Wand war der einzige Platz im Haus, der etwas Chaos zuließ. Bestimmt waren die Bücher alphabetisch sortiert, doch dadurch musste mein Vater den Eindruck des Durcheinanders in Kauf nehmen, sie auf Grund der unterschiedlichen Größe erweckten. Ich schaute nur kurz dahin, dann wieder zu meinem Vater. Er war etwas blass, sein Haar war zu einem Scheitel gekämmt, er wirkte frisch rasiert, nur unter den Augen lagen dunkle Schatten, die neben dem Schal und der geröteten Nase von der Erkältung zeugten.
          »Man hat mir gekündigt.«
          Mein Vater stand auf, »ich muss meinen Kamillentee trinken«, ging in die Küche, kam mit einer Tasse zurück, »möchtest du wirklich nichts trinken?«, setzte sich wieder, nachdem ich abgelehnt hatte.
          »Warum hat man dir gekündigt? Hast du dir nicht genug Mühe gegeben?« Er fragte ganz sachlich, als säße nicht sein Sohn, sondern einer seiner Schüler ihm gegenüber.
          »Doch«, sagte ich. »Das habe ich.« Der sachliche Abstand half mir, ihm knapp und zusammenfassend zu schildern, was passiert ist. Mein Vater blieb ruhig und angelehnt sitzen, stellte keine Fragen. Seine Hände hatte er entspannt auf den Armlehnen liegen. Die Tasse Kamillentee blieb unberührt auf dem Tisch stehen, bis
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