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Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)

Titel: Corvidæ / Haus der Jugend [Twindie: Zwei Romane – ein Preis] (German Edition)
Autoren: Simone Keil , Florian Tietgen
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Strahlen. Ich fühlte mich gut, so gut wie schon lange nicht mehr, und an Lizzies Lächeln erkannte ich, dass es ihr ebenso ging, auch wenn sie das nicht zugegeben hätte.
    Wir redeten über unsere Arbeit, das Wetter, belangloses Zeug. Lizzie vermied alle Themen, die Großmutter oder unserer Kindheit betrafen. Dann gingen wir eine Weile schweigend nebeneinander her und ich betrachtete Lizzies Profil. Ihre hohe Stirn, die gerade Nase, das kleine Grübchen am Kinn.
    „Es ist so still hier“, sagte sie. „Richtig unheimlich.“
    Ich lachte. „So was nennt man Natur. Du solltest öfter mal aus der Stadt raus fahren.“
    „Hm“, machte sie. „Lass uns eine Pause machen.“ Sie packte meine Hand und zog mich auf eine Lichtung, die etwas abseits des Weges lag.
    Wir setzten uns auf den Boden. Zwei große schwarze Vögel kreisten über den Bäumen. Lizzie stützte sich auf den Ellbogen und sah mich an. „Ziemlich lange her, was?“
    „Viel zu lange“, antwortete ich. „Aber wir könnten ja einiges nachholen, was wir in den ganzen Jahren versäumt haben. Wir haben zum Beispiel immer noch keinen einzigen Baumgeist zu Gesicht bekommen.“
    „Ach, Cat, daran habe ich damals schon nicht geglaubt. Großmutters Geschichten. Alles Unsinn.“ Sie legte sich zurück und schloss die Augen.
    Ich verschränkte die Arme hinter dem Kopf. Es war unglaublich still. Fast unheimlich. Kein Tier, kein Geräusch war zu hören. Ich merkte, wie ich langsam eindöste; genoss es, wie meine Muskeln sich entspannten.
    Ein Regentropfen fiel auf mein Gesicht und ich schreckte auf. Wir hatten beide nicht bemerkt, dass Wolken aufgezogen waren. Der Himmel hatte das Azurblau gegen ein aggressives Grau getauscht, durch das die Wolken hetzten, als wären sie auf der Flucht. Der Wind schüttelte die Bäume. So plötzlich, dass ich den Eindruck hatte, er müsste auf seinen Einsatz gewartet haben. Er riss und zerrte an den Ästen, die unter seiner Gewalt zu ächzen begannen. Ein Blitz durchzuckte die Wolkendecke. Kurz darauf ein Donnerschlag. Es begann zu schütten. Binnen Sekunden waren wir nass bis auf die Knochen.
    „Wir müssen hier weg.“ Ich schulterte den Rucksack und wandte mich in die Richtung, in der ich den Weg vermutete. Dichter Nebel waberte über den Boden. Ich konnte keine fünf Meter weit sehen. Wir stolperten los. Lizzie verhedderte sich in einem Dornenbusch, und ich half ihr, sich zu befreien.
    Es wurde dunkler, als wäre es bereits Abend. Aber das konnte unmöglich sein, wir waren doch höchstens drei Stunden unterwegs gewesen. Wir stapften vorsichtig weiter. Der Boden wurde immer weicher und sumpfiger. Unsere Schuhe machten schmatzende Geräusche und es war mühsam, sie immer wieder aus dem Matsch zu ziehen.
    „Das gibt’s doch nicht!“, rief Lizzie zwischen zwei Donnerschlägen, die so nahe waren, dass ich fürchtete, wir würden vom Blitz getroffen. „Der Weg kann doch nicht verschwunden sein!“
    Ich sah mich um. Ich konnte kaum noch die Hand vor Augen sehen, so dicht war die Nebelwand.
    „Hörst du das?“, schrie Lizzie gegen den prasselnden Regen an. Ich blieb stehen und lauschte. Ja, das waren Glocken, also musste das Dorf in dieser Richtung zu finden sein. Wir folgten den Glockenschlägen. Meine Beine schmerzten. Wir sanken bereits bis zu den Waden ein und ich hatte Angst, dass wir stecken bleiben könnten.
    Lizzie klammerte sich an meinen Arm. „Ich kann nicht mehr, Cat.“
    Ich biss die Zähne zusammen und zerrte sie hinter mir her. „Es ist nicht mehr weit“, rief ich. Und tatsächlich. Hinter einer Baumgruppe konnte ich die Umrisse eines Hauses erkennen. „Siehst du?“ Ich deutete in die Richtung. „Gleich sind wir in Sicherheit!“

2
    I ch trommelte an die Eingangstür, doch niemand öffnete. Aus dem Fenster des kleinen Holzhauses fiel ein Lichtschimmer auf den aufgeweichten Boden. Ich legte beide Hände ans Gesicht und spähte hinein. Im Kamin brannte ein Feuer. Mehrere Kerzen auf dem Tisch und dem Schränkchen an der gegenüberliegenden Wand tauchten den Raum in ein anheimelndes Licht.
    Eine junge Frau verharrte regungslos vor einer Staffelei. Sie starrte die Leinwand an, als liefe darauf ein Film ab. Ihre Gesichtszüge waren starr, wie ihr Körper, aber in ihren Augen flackerte das Leben. Da lag so viel Leidenschaft in ihren Blicken, so viel Faszination. Ich hatte noch nie jemanden gesehen, der so lebendig erschien, und dabei gleichzeitig so still und verschlossen.
    Ein Donnerschlag, laut wie ein
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