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Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Titel: Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
Autoren: Yasmina Khadra
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Geschenk des Lebens.«
    Neben mir steht Arezki und reibt sich pausenlos die Hände an den Hüften trocken. Er hört nicht, was der Imam sagt, sieht nicht die Vögel, die sich in den verkümmerten Bäumen die Seele aus dem Schnabel schreien. Von Zeit zu Zeit fällt sein verstörter Blick auf den weißumhüllten Körper seines Bruders. Und erst dann faltet er, der so zerbrechlich und zerrupft aussieht, die Hände vorm Bauch und beugt das Genick noch ein wenig mehr vornüber.
    Kaum sind die ersten Schaufeln Erde auf den Leichnam gefallen, hat Arezki sich schon abgewandt. Ich folge ihm bis zur Straße, durch die sich zahllose Risse ziehen, und weiter hinauf bis auf den Hügel, auf den er als Kind immer mit seinem Bruder lief, um von dort oben Echos über das zerklüftete Land zu werfen. Selbstvergessen lehnt er an einem Feigenbaum, einen Arm auf dem Stamm ausgestreckt, den Kopf gegen den Handrücken gestützt, selbstvergessen, eine Ewigkeit lang.
    Mir fehlen die Worte.
    Stumm verharren wir dort, zwischen Himmel und Erde, winzig und stumm, zwei Staubkörnern gleich. Um uns herum, so weit das Auge reicht, verwüstetes Land. Mein Blick fällt auf ausgedörrte Obstgärten, kahle Hügelkuppen und Geisterflüsse, die dabei sind, ihrer Verlassenheit von Gott und der Welt Gestalt zu geben. Am Fuß des Bergs, hinter seinen Elendshütten verschanzt, modert Igidher in der Sonne vor sich hin, undurchdringlich wie die Wege des Herrn. Meine Heimat ist nur noch ein unermeßlicher Schmerz …
    Hier bin ich geboren, vor sehr langer Zeit. Man nannte es die Zeit der Kolonien. Damals waren die Felder so unermeßlich weit, daß jenseits des Bergs, so schien es mir, das Nichts begann. Der Weizen stand mir bis zu den Schultern, und doch hatte ich ständig Hunger, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Ich verstand schon damals nicht, aber es war mir egal: Ich hatte das Glück, ein Kind zu sein. Wenn ich dem Flug der Libelle zusah und mir dabei selber Flügel wuchsen, wenn die Kaskaden meines Lachens ins plätschernde Wasser der Brunnen tropften, wenn ich wie toll durchs Farnkraut tobte, obwohl jeder Schritt wie ein Zweikampf war, wußte ich: ich war als Dichter geboren wie der Vogel als Sänger, und wie dem Vogel so fehlten auch mir nur die Worte, es zu sagen.
    Und heute, da verstehe ich noch immer nicht. Ich taste mich vorwärts wie ein Blinder im hellen Tageslicht. Zwar habe ich die Fesseln längst abgestreift, doch der Lorbeer des Freigelassenen ist mir wie eine Scheuklappe. Mein Prophetenblick hat jeden Halt verloren. Fast schäme ich mich für den Erwachsenen, der aus mir geworden ist, und erwarte mein Alter mit demselben Argwohn wie andere den Gerichtsvollzieher, denn die Dinge hienieden machen mich längst nicht mehr träumen.
     
    Die Nacht zieht schwarzgallig über dem alten Stammland der Nai’t-Wali herauf. Einst ein wundervoller Augenblick. Die Sterne waren zum Greifen nah. Die heiligen Schutzpatrone der dechra [Dorf, Gemeinde] wachten über uns. Wir schauten dem Tanz der Irrlichter über der Öllampe zu und waren mit allen Dingen und Wesen versöhnt. Wir waren arm, aber nicht unglücklich, lebten für uns, aber nicht vereinsamt, waren ein Stamm und wußten, was das hieß. Die Faszination der Ferne, die Verheißungen der Großstadt, die lockenden Gesänge der Chimären … nichts davon kam dem Schellenklang an den Hälsen unserer Ziegen gleich. Wir waren eine Rasse freier Männer, und wir hielten uns fern von der Welt, ihren Bestien und Höllenhunden, ihren Machern und Machenschaften, ihren Protesten und Manifesten, ihrem Industrielärm und ihrem Investitionsgeschrei …
    Heute hat der Abend sämtliche Lichter verschluckt. Schaudernd erbleichen die Sterne am Himmel von Igidher. Das Höllentier ist da. In der Stille des Untergrunds schickt es sich an, uns das Leben zu verdüstern.
    »He, Brahim, du stößt gleich mit einem Satelliten zusammen!«
    Ich schrecke hoch.
    Mohand läßt sich neben mich fallen, das Gewehr zwischen die Schenkel geklemmt. »Komm auf die Erde zurück, alter Freund«, fügt er hinzu. »Das Spiel läuft hier.«
    Er kramt eine Schachtel Zigaretten hervor, hält mir eine hin: »Rauchst du?«
    »Nein, danke.«
    Er betätigt das Feuerzeug, macht drei gierige Lungenzüge und atmet durch die Nase aus. Unten in der Ferne, am Fuß des Hügels, schimmert der Weiler Imazighene wie eine Ansammlung von Glühwürmchen.
    Ich lege einen Stein mit der Schuhspitze frei und befördere ihn in den Graben.
    Mohand dreht sich zu mir um,
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