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Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären

Titel: Commissaire-Llob 3 - Herbst der Chimären
Autoren: Yasmina Khadra
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zu merken, die ganze Stadt, ich nervös auf mein Lenkrad eintrommelnd, er mit seinem Bündel im Arm. Nicht ein einziges Mal bekundet er Interesse für das Menschengewühl, das ziellos die Gehwege überflutet, noch für die Autofahrer, die uns rücksichtslos in wildem Slalom überholen. Zusammengesunken sitzt er da, sein Blick klebt an der Windschutzscheibe, seine Lippen sind wie vernarbt. Trotz der glühenden Sommerhitze hat er noch nicht mal daran gedacht, die Scheibe herunterzukurbeln. Ich weiß nicht warum, doch als ich ihn so sehe, steigt plötzlich Groll gegen die ganze Welt in mir auf.
    Nach einer guten Stunde Fahrt, als wir eben in den Pfad der Verderbnis einbiegen, der weit von jeder überwachten Straße wegführt, höre ich, wie er den Griff um sein Bündel lockert. Ich spähe aus den Augenwinkeln nach ihm, warte auf eine Reaktion. Ich hatte gedacht, er würde auf das Armaturenbrett einschlagen oder den Boden des Fahrzeugs mit Tritten traktieren, doch nicht die geringste brüske Bewegung. Nur sein Adamsapfel zuckt im kahlen Hals auf und ab, dann, Sekunden später, klingt seine Stimme in einem pathetischen Gurgeln auf: »Hat er sehr gelitten?«
    »Andere haben Schlimmeres durchgemacht.«
    Sein Atem gerät einen Moment aus dem Takt, wird wieder regelmäßig. »Ich habe dich gefragt, ob er gelitten hat!«
    »Jetzt leidet er nicht mehr.«
    »Schußwaffe?«
    »Das macht ihn auch nicht wieder lebendig.«
    Plötzlich sind seine Hände auf dem Lenkrad und nötigen mich zu einer Vollbremsung am Straßenrand.
    »Ich will es wissen!«
    Ich stoße ihn wütend auf seinen Sitz zurück. »Was willst du wissen, Arezki Nai’t-Wali? Liest du keine Zeitungen, hörst du kein Radio? Wir sind im Krieg. Dein Bruder ist tot, Punkt und Schluß.«
    Er umklammert wieder sein Bündel, starrt weiter auf die Windschutzscheibe. Eine Minute lang versucht er, dem Beben seiner Kinnspitze Einhalt zu gebieten. »Ich möchte es auf keinen Fall erst im Dorf erfahren, Brahim. Für mich ist es wichtig, hier und jetzt Klarheit zu haben.«
    Er seufzt, und in diesem Seufzen liegt so viel an Kummer und Leid, daß meine Hand sich wie von selbst auf seine legt.
    Ich nehme all meinen Mut zusammen, bevor ich antworte: »Klinge.«
    Mir ist, als könnte ich die Explosion wahrnehmen, die ich tief in ihm drin ausgelöst habe. Langsam, ganz langsam schrumpft er zusammen, wird so klein, daß ich den Eindruck habe, ich könnte ihn von Kopf bis Fuß mit meiner hohlen Hand umfangen.
    »Neiiin!« Aufstöhnend läßt er sich nach hinten fallen. Und beginnt zu weinen.
     
    Die Beerdigung findet auf dem alten Friedhof von Igidher [Berberdorf in der Kabylei (östlich von Algier) - Kabylen (von. arab. »qibla« = Stamm) heißen die algerischen Berber, die 20-30 Prozent der Gesamtbevölkerung Algeriens ausmachen. Sie gelten traditionell als »rebellisch« und stehen in Opposition zum totalitären Regime, das ihre sprachliche und kulturelle Besonderheit unterdrückt.] statt. Viele sind gekommen, wollten es sich nicht nehmen lassen, den Toten zu seiner letzten Ruhestätte zu geleiten. Aus der ganzen Gegend sind sie herbeigeströmt. Würdige Greise, stattliche Männer, junge Leute, sichtlich unter Schock.
    Idir Nai’t-Wali war keiner von den Notabeln. Gewiß, er hatte einen der bedeutendsten Maler des ganzen Landes zum Bruder, gewiß, sein Name erhob den Stamm in den Rang einer Nation, doch als Philosoph, der um den Wahn weltlicher Eitelkeit wußte, war es ihm gelungen, eine aufrechte, zurückhaltende Gestalt zu bleiben, wie schon sein Vater, sein Großvater und seine Ahnen es gewesen waren. Ein geborener Hirte und unrettbarer Träumer, Künstler nach Lust und Laune und Krieger wider Willen. Sein Leben spielte sich im Schatten seiner Ölbäume ab, nie sah man ihn anders als mit dem Turban auf dem Kopf und der Flöte in Reichweite seiner Seufzer. Er besaß rund zwanzig Schafe, denen er hingebungsvoll beim Grasen zusah, ein Fleckchen Land am Ausgang vom Dorf und die warme Zuneigung der Seinen. Er war primitiv, weil er authentisch war, und seine Tage spulte er ab wie andere die Perlen an ihrem Rosenkranz, ohne Getue, ohne Tamtam, ohne weltbewegende Überzeugungen, überzeugt wie er war, daß das Glück - jedwedes Glück - eine Frage der Mentalität sei, weiter nichts.
    Gerade spricht der Imam: »Das schlimmste Unrecht, das man dem lieben Gott antun kann, besteht darin, jemandem das Leben zu nehmen. Denn nirgends zeigt sich die Großzügigkeit des Herrn eindrucksvoller als im
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