Coins - Die Spur des Zorns

Mit einem Male schlug sein Herz bis zum Halse. Mit zitternden Knien setzte er sich auf den nächstbesten Stuhl, begann zu lesen:
     
     
    Breaking News
    New Delhi/Jamnagar
    Interpol Delhi ist in Zusammenarbeit mit ausländischen Interpol-Dienststellen ein entscheidender Schlag gegen ein internationales Pädophilen- und Menschenhändler-Netzwerk gelungen. Dem Vernehmen nach sind höchste Gesellschaftskreise betroffen. Es erfolgten inzwischen zahlreiche Festnahmen, in vereinzelten Fällen konnten Kinder befreit werden. In Jamnagar wurde die indische Zentrale des Netzwerks ausgehoben, in Odessa ihr ukrainisches Pendant. Der an der Westküste residierende Aristokrat Jonathan M. C., 59, britischer Staatsbürger, entzog sich der Festnahme durch Freitod. Interpol hat angesichts der andauernden Fahndungs- und Verhaftungskampagne eine Nachrichtensperre verfügt.
     
     
    Vor Pohls Augen begann der Text zu verschwimmen. ‚Bloß nicht heulen!‘ Er starrte hoch zur Decke, doch sein Blick reichte weiter, irgendwohin in die Unendlichkeit, in der er Rebecca wusste. Er hatte ihr Wichtiges zu berichten.
    Esther, etliche Schachfiguren in der Hand, beobachtete ihn die ganze Zeit. Sie war Frau, hatte ein Gefühl für ‚besondere Situationen‘. Diese Nachricht, sie zweifelte nicht eine Sekunde daran, war eine ‚besondere Situation‘. Ihre Blicke begegneten sich. Sie ließ die Figuren fallen, sprang auf. Auf halbem Wege fielen sie sich in die Arme. Keiner sprach ein Wort, jeder wusste von dem anderen, was in ihm vorging. Es war eine stumme Umarmung, voller Symbolik. Endlich nahm er ihren Kopf in beide Hände, blickte sie an. „Es ist vorbei, Esther. Es ist vorbei.“

Abspann
     
    Jan Pohl brach die Zelte in Deutschland ab, wanderte mit den Zwillingen Alena und Alexa nach West Virginia aus. Nicht die Wälder West Virginias, Esther war das Ziel. Den Erlös aus dem Hausverkauf steckten sie in den Ausbau der Pension, inzwischen angesagteste Ferienadresse der Region. Max und die Zwillinge sind dicke Freunde geworden. Sie besuchen gemeinsam in Wheeling das Internat. Jan Pohl hält als Gastprofessor zweimal wöchentlich Vorlesungen an der West Virginia University in Morgantown. Nach seiner Lieblingstätigkeit befragt, gibt es für ihn nur eine Antwort: „Mit Esther im See schwimmen.“ Trotz dieser Idylle plagt ihn immer wieder das Trauma seines Rachefeldzugs. Bedrückenden Erinnerungen und Selbstzweifeln begegnet er mit überbordendem Aktionismus. Esther kennt nicht den Hintergrund, hält es für einen gar nicht einmal unsympathischen Spleen.
     
    Harald Schöller ist seiner Versetzung in den Innendienst zuvorgekommen, hat, der ministeriellen ‚Empfehlung‘ folgend, ‚aus gesundheitlichen Gründen‘ rechtzeitig den Vorruhestand angetreten. Er ist als Gesellschafter in Fortmans Detektei eingetreten, führt, in der Pädophilenszene gefürchteter denn je, in Düsseldorf die europäische Niederlassung. Entgegen seiner ursprünglichen Absicht besucht er Pohl regelmäßig, steigt seither – in der Regel gemeinsam mit Fortman – in den Ferien in Esthers Pension ab. Dann werden, wie einstmals in Düsseldorf, die Abende am Summersville Lake lang. Inzwischen hat er Pohl sogar das ‚Du‘ angeboten, ein geradezu epochales Ereignis. Der ‚Fall Pohl‘ wird bei diesen Treffen, ohne dies je vereinbart zu haben, grundsätzlich nicht  angesprochen.  
     
    Dr. Heisterkamp gelang es, mit Unterstützung ‚einflussreicher Kreise‘ den Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Er schreckte nicht davor zurück, zu seiner Entlastung seinen Sohn zu bezichtigen. Er legte aus vorgeblicher Entrüstung alle Ämter nieder, wanderte mit seiner Frau nach Florida aus. Dort residiert er in seinem vor Jahren erworbenen Feriendomizil, keine Meile von Bridgetts Villa entfernt. Von dort aus führt er unbehelligt die Geschäfte seines Firmenimperiums.
     
    Dr. Wagner, Leitender Staatsanwalt, hat den ersehnten Staatssekretärsposten im Düsseldorfer Innenministerium angetreten. In Würdigung seiner Verdienste um die Zerschlagung eines internationalen Pädophilennetzwerks wurde ihm die Verdienstmedaille des Landes Nordrhein-Westfalen verliehen. Seine nächsten Ziele sind das Bundesverdienstkreuz und ein Ministerposten in Berlin. Er habe realistische Chancen, heißt es in gut unterrichteten Kreisen.
     
    Staatsanwalt Clausnitzer wurde an die Staatsanwaltschaft Arnsberg, Abteilung II (Regionalabteilung Hochsauerland) versetzt. Er ist dort Leiter der für Brandsachen